Dom Casmurro
erneut über das Thema. Da schlug Manduca vor, wir sollten unsere Argumente schriftlich austauschen, und am Dienstag oder Mittwoch erhielt ich zwei Blätter, auf denen er das Recht der Alliierten und die Integrität der Türkei verteidigte. Sie endeten mit den prophetischen Worten: «Die Russen werden Konstantinopel nicht einnehmen!»
Ich las die beiden Seiten und machte mich daran, seinen Standpunkt zu widerlegen. Mir fällt kein einziges der Argumente mehr ein, die ich anführte, und vermutlich wären sie heute, da das Jahrhundert zu Ende geht, auch nicht mehr interessant. Ich weiß nur noch, dass sie mir unwiderlegbar vorkamen. Ich brachte ihm meine Erwiderung persönlich vorbei. Man führte mich ins Schlafzimmer, wo er, nur kärglich in eine Flickendecke gehüllt, auf dem Bett lag. Der Spaß an der Polemik oder irgendetwas anderes, mir Unerklärliches, bewirkten, dass ich den ganzen Ekel, den das Krankenbett verströmte, gar nicht wahrnahm, weshalb die Freude, mit der ich ihm mein Papier überreichte, echt war. Manduca seinerseits lächelte auf eine Weise, die sein Gesicht, so abstoßend es damals auch aussah, erhellte und verschönte. Für die Überzeugung, mit der er mein Schreiben entgegennahm und mir sagte, dass er es lesen und darauf antworten werde, gibt es weder in unserer noch in einer anderen Sprache wahrhaft treffende Worte. Sie war nicht übertrieben, nicht lautstark und auch nicht von großen Gesten bestimmt, die seine Krankheit sowieso nicht zugelassen hätte. Sie war einfach, groß und tief und, noch ehe er meine Argumente kannte, voll unglaublicher Vorfreude auf den Sieg. Papier, Feder und Tinte hatte er bereits am Bett. Ein paar Tage später erreichte mich seine Antwort. Ich weiß nicht mehr, ob sie etwas Neues enthielt oder nicht, aber sie war hitziger, und der Schlusssatz war derselbe: «Die Russen werden Konstantinopel nicht einnehmen!»
Ich schrieb eine Erwiderung, und die Polemik ging eine Zeit lang so glühend weiter, weil keiner von uns nachgab, sondern seine Klienten energisch und stolz verteidigte. Manducas Texte waren länger und kamen pünktlicher. Ich hatte natürlich tausend andere Dinge im Kopf: Schule, Freizeit, Familie, meine eigene Gesundheit, die mir andere Übungen abverlangte. Manduca hingegen hatte außer der Handbreit Straße, die er am Sonntagnachmittag sah, nichts außer diesem Krieg, der zwar alle Welt interessierte, über den aber niemand mit ihm sprach. Der Zufall hatte ihm in mir einen Gegner beschert, und er, der gerne schrieb, stürzte sich auf diese Diskussion, als wäre sie ein neues, radikales Heilmittel. Die langen, traurigen Stunden wurden nun kurzweilig und heiter für ihn. Seine Augen weinten nicht mehr, falls sie denn vorher geweint hatten. Ich spürte diese Veränderung sogar an seinen Eltern.
«Sie können sich gar nicht vorstellen, wie gut es ihm geht, seit Sie ihm diese Briefe schreiben», sagte mir der Geschäftsinhaber einmal an der Ladentür. «Er redet und lacht ganz viel. Kaum, dass ich den Kassierer losgeschickt habe, damit er Ihnen seinen Brief bringt, fragt er schon nach der Antwort, und wenn die zu lange auf sich warten lässt, sagt er, ich solle Sie fragen, sobald Sie vorbeikommen. Solange er wartet, liest er Zeitungen und macht sich Notizen. Aber kaum, dass er Ihre Briefe bekommt, stürzt er sich darauf und fängt sofort an zu schreiben. Manchmal isst er nicht einmal mehr oder kaum noch, daher würde ich Sie bitten, sie möglichst nicht zur Mittag- oder Abendessenszeit zu schicke n …»
Ich wurde als Erster müde. Meine Antworten verzögerten sich zunehmend, und irgendwann schrieb ich gar nicht mehr. Nach dem Ausbleiben meiner Antworten versuchte er es noch zwei oder drei Mal, doch als von mir wieder nichts kam, stellte auch er, entweder weil er es ebenfalls leid geworden war oder um mich nicht zu verärgern, seine Verteidigungsschriften ein. Sein letzter Brief endete wie der erste und überhaupt alle seine Briefe mit der ewigen Voraussage: «Die Russen werden Konstantinopel nicht einnehmen!»
Sie nahmen es in der Tat nicht ein, weder damals noch später noch jetzt. Aber wird seine Voraussage ewig gültig sein? Werden sie es nicht vielleicht doch eines Tages einnehmen? Schwer zu sagen. Fest steht, dass weder die Natur noch die Geschichte mit sich spielen lassen. Manduca selbst wehrte sich drei Jahre gegen den Zerfall, bis er ins Grab kam. Sein Leben leistete wie die Türkei Widerstand. Wenn es am Ende doch nachgab, dann, weil es ihm an
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