Don Juan 04 - Der Ring der Kraft. Don Juan in den Städten
sollte ich meine Kleider ausziehen und sie als Bündel hier, wo wir waren, zurücklassen. Ich schaute ihn fragend an, und er erklärte, ich müsse nackt sein, aber ich dürfe die Schuhe an und den Hut aufbehalten. Ich wollte wissen, warum ich nackt sein müsse. Lachend sagte Don Juan, der Grund dafür sei eher ein persönlicher, und es gehe dabei um meine eigene Bequemlichkeit. Ich selbst hätte ihm gesagt, daß ich es so haben wolle. Diese Erklärung verblüffte mich. Ich glaubte, daß er sich über mich lustig machte oder, in Übereinstimmung mit seinen vorangegangenen Eröffnungen, einfach meine Aufmerksamkeit ablenken wollte. Ich wollte wissen, warum er dies tat. Er erinnerte mich an ein Erlebnis, das ich vor Jahren gehabt hatte, als wir mit Don Genaro in den Bergen Nordmexikos waren. Bei dieser Gelegenheit hatten sie mir auseinandergesetzt, daß die »Vernunft« unmöglich alles erklären könne, was
280 in der Welt geschieht. Um mir eine unabweisbare Demonstration dessen zu geben, führte Don Genaro - als »Nagual« — einen ungeheuren Sprung vor und »dehnte sich aus«, bis er die Spitzen der etwa zwanzig Kilometer entfernten Berge erreichte. Daraufhin hatte Don Juan mir erklärt, daß ich das Wesentliche verpaßt hätte und daß Don Genaros Demonstration, was meine »Vernunft« betraf, ein Fehlschlag gewesen sei; doch im Hinblick auf meine körperliche Reaktion habe sie ja einen wahren Aufruhr ausgelöst.
Die Körperreaktion, auf die Don Juan anspielte, war etwas, woran ich noch immer eine lebhafte Erinnerung bewahrte. Ich sah damals Don Genaro vor meinen Augen verschwinden, als habe ein Windstoß ihn fortgeweht. Sein Sprung, oder was es auch sein mochte, hatte eine so tiefe Wirkung auf mich ausgeübt, daß ich glaubte, seine Bewegung habe mir die Gedärme zerrissen. Mir widerfuhr ein Unglück, und ich mußte mein Hemd und meine Hose wegwerfen. Meine Verlegenheit und Peinlichkeit waren grenzenlos; ich mußte nackt, nur den Hut auf dem Kopf, auf einem verkehrsreichen Highway bis zu meinem Auto gehen. Don Juan erinnerte mich daran, daß ich ihn damals gebeten hatte, nicht zuzulassen, daß ich mir noch einmal meine Sachen ruinierte.
Nachdem ich mich ausgezogen hatte, gingen wir einige hundert Schritt zu einem sehr hohen Felsen, der die gleiche Schlucht überragte. Er hieß mich hinabsehen. Die Wände stürzten fast senkrecht an die fünfzig Meter hinab. Dann befahl er mir, meinen inneren Dialog abzustellen und auf die Geräusche um uns her zu lauschen.
Nach einer Weile hörte ich das Geräusch eines von Fels zu Fels in die Schlucht kollernden Kiesels. Jeden einzelnen Aufprall des Steinchens hörte ich mit unvorstellbarer Klarheit. Dann hörte ich noch einen Stein fallen und dann noch einen. Ich hob den Kopf und brachte mein linkes Ohr in die Richtung, aus der das Geräusch kam. und da sah ich Don Genaro auf der Spitze des Felsens sitzen, vier bis fünf Meter von unserer Stelle entfernt. Gleichmütig warf er kleine Steine in die Schlucht hinab.
Als ich ihn entdeckte, schrie und lachte er und meinte, er habe sich dort versteckt und darauf gewartet, daß ich ihn entdeckte. Einen Augenblick war ich bestürzt. Don Juan flüsterte mir immer wieder ins Ohr, daß meine »Vernunft« zu diesem Ereignis nicht eingeladen sei und daß ich den bohrenden Wunsch, alles unter Kontrolle zu halten, aufgeben solle. Er sagte, das »Nagual« sei eine nur für mich bestimmte Wahrnehmung, und dies sei auch der Grund, warum Pablito das »Nagual« in meinem Auto nicht gesehen habe. Als könne er meine unausgesprochenen Gedanken lesen, fügte er hinzu, daß das »Nagual«, obgleich nur allein für mich zu sehen, doch Don Genaro selbst sei.
Don Juan nahm mich am Arm und führte mich mit gespielter Behutsamkeit dorthin, wo Don Genaro saß. Don Genaro stand auf und kam näher. Sein Körper strahlte eine Wärme aus, die ich förmlich sehen konnte, ein Leuchten, das mich blendete. Er trat neben mich, und ohne mich zu berühren, brachte er seinen Mund ganz nah an mein linkes Ohr und fing an zu flüstern. Auch Don Juan fing an, in mein anderes Ohr zu flüstern. Ihre Stimmen waren synchron. Beide wiederholten sie immer die gleichen Sätze. Sie sagten, daß ich mich nicht fürchten solle, daß ich lange, kraftvolle Fasern hätte, die nicht dazu da seien, mich zu schützen, denn es gebe nichts zu beschützen oder nichts, vor dem ich beschützt werden müsse; vielmehr seien sie dazu da. meine Wahrnehmung des »Nagual« ganz ähnlich zu
Weitere Kostenlose Bücher