Don Juan 04 - Der Ring der Kraft. Don Juan in den Städten
steuern, wie meine Augen meine normale Wahrnehmung des »Tonal« steuerten. Sie sagten, daß meine Fasern mich überall umgäben, daß ich durch sie alles gleichzeitig wahrnehmen könne und daß eine einzige Faser einen Sprung vom Felsen hinab in die Schlucht oder aus der Schlucht wieder auf den Felsen hinauf ermöglichen würde. Ich hatte alles aufgenommen, was sie mir zuflüsterten. Jedes Wort schien eine einzigartige Bedeutung für mich zu haben; ich konnte jede ihrer Äußerungen behalten und mir wieder abspielen, als sei ich ein Tonbandgerät. Beide drängten mich, auf den Grund der Schlucht hinabzuspringen. Sie sagten, ich solle zuerst meine Fasern spüren und dann eine davon isolieren, die bis hinab zum Grund der Schlucht reiche, und dieser folgen. Während sie ihre Kommandos flüsterten, waren ihre Worte bei mir sogar von den entsprechenden Gefühlen begleitet. Ich spürte ein Jucken am ganzen Leib, besonders eine 282 ganz eigenartige Empfindung, die an sich unbestimmbar war, aber dem Gefühl eines »anhaltenden Juckens« gleichkam. Mein Körper konnte tatsächlich den Grund der Schlucht fühlen, und ich spürte dieses Gefühl als ein Jucken an einer unbestimmten Stelle meines Körpers.
Don Juan und Don Genaro redeten weiter auf mich ein, ich solle an diesem Gefühl hinabgleiten, aber ich wußte nicht, wie. Dann hörte ich nur noch Don Genaros Stimme. Er sagte, er werde mit mir zusammen springen; er packte mich oder stieß mich oder umarmte mich und stürzte sich mit mir in den Abgrund. Ich empfand die äußerste physische Pein. Es war, als ob mein Magen mir bis zum Hals aufstieß. Es war eine Mischung aus Schmerz und Lust und von solcher Heftigkeit und Dauer, daß ich nur mit aller Lungenkraft schreien und schreien konnte. Als diese Empfindung nachließ, sah ich ein unerklärliches Bündel von Funken und dunklen Massen, Lichtstrahlen und wolkenähnlichen Gebilden. Ich wußte je-doch nicht, ob meine Augen offen oder geschlossen waren oder wo meine Augen waren oder wo überhaupt mein Körper war. Dann empfand ich noch einmal die gleiche physische Pein, wenn auch nicht so ausgeprägt wie das erste Mal, und dann hatte ich den Eindruck, als sei ich eben erwacht, und ich fand mich zusammen mit Don Juan und Don Genaro auf dem Felsen wieder.
Don Juan sagte, ich hätte wieder versagt, denn es sei zwecklos zu springen, wenn die Wahrnehmung des Sprungs so chaotisch sei. Beide wiederholten mir zahllose Male in meine Ohren, daß das »Nagual« an sich nutzlos sei, daß es durch das »Tonal« bezähmt werden müsse. Sie sagten, ich müsse bereitwillig springen und mir meines Tuns bewußt sein. Ich zögerte, weniger weil ich Angst hatte, sondern weil ich widerwillig war. Ich spürte mein inneres Schwanken ganz so. als ob mein Körper wie ein Pendel hin- und herschwankte. Dann ergriff mich eine seltsame Stimmung, und ich sprang -in aller Körperlichkeit. Während ich diesen Satz tat, versuchte ich zu denken, aber ich konnte nicht. Wie durch einen Nebel sah ich die Wände der engen Schlucht und die hervorspringenden Felsen am Boden des Grabens. Meine Wahrnehmung des Sturzes bildete keine Reihenfolge, vielmehr hatte ich das Gefühl, sofort unten am Boden zu sein; ich konnte alle Eigentümlichkeiten der Felsen im engeren Umkreis unterscheiden. Ich bemerkte, daß meine Sicht nicht unlinear und auch nicht stereoskopisch war, sondern daß ich alles im Kreise um mich her sah. und zwar fotografisch flach. Im nächsten Augenblick geriet ich in Panik, und irgend etwas zog mich wie ein Jo-Jo hinauf.
Don Juan und Don Genaro ließen mich immer wieder springen. Nach jedem Sprung bedrängte Don Juan mich, ich solle weniger zurückhaltend und unwillig sein. Immer wieder sagte er, daß das Geheimnis der Zauberer bei der Nutzung des »Nagual« in unserer Wahrnehmung liege, daß das Springen nur eine Wahrnehmungsübung sei und daß ich erst dann aufhören dürfe, wenn es mir gelungen sei, ganz als »Tonal« wahrzunehmen, was sich am Boden der Schlucht befand. Irgendwann hatte ich dann eine unglaubliche Empfindung. Ich war mir völlig nüchtern bewußt, daß ich an der Felskante stand, während Don Juan und Don Genaro mir in die Ohren flüsterten, und dann, im nächsten Augenblick, sah ich den Grund der Schlucht. Alles war völlig normal. Es war inzwischen fast dunkel, doch es gab immer noch genügend Licht, um alles exakt zu erkennen - wie in der Welt meines alltäglichen Lebens. Ich betrachtete gerade ein paar Büsche, als ich plötzlich
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