Don Juan 05 - Der zweite Ring der Kraft
Worte völlig ernst nehmen - und dies war für mich gefährlicher sogar als Don Genaros Taten, die mich einst im Innersten meiner Seele erschreckten. Aber so furchtbar seine Taten auch waren, sie waren doch in das kontinuierliche Ganze ihrer Lehren eingebettet. La Gordas Worte und Taten stellten für mich eine andere Art der Bedrohung dar; sie waren konkreter und wirklicher als jene. La Gorda zitterte. Es war wie eine Wellenbewegung ihres Körpers, die sie veranlaßte, in Schultern und Armen alle Muskeln anzuspannen. In unglaublich starrer Haltung umklammerte sie die Tischkante. Dann entspannte sie sich, bis sie wieder sie selbst war.
Sie lächelte mir zu. Ihr Blick und ihr Lächeln verwirrten mich. In beiläufigem Ton meinte sie, sie habe eben mein Dilemma >gesehen<.
»Es ist zwecklos, wenn du die Augen schließt und vorgibst, daß du nichts tun willst und daß du nichts weißt«, sagte sie. »Das kannst du bei anderen Leuten machen, nicht aber bei mir. Ich weiß, warum der Nagual mir den Auftrag gab, dir all dies zu erzählen. Ich bin ein Niemand. Du bewunderst große Menschen. Der Nagual und Genaro waren die größten von allen.« Sie hielt inne und sah mich prüfend an. Sie schien meine Reaktion auf ihre Worte abzuwarten.
»Du hast dich die ganze Zeit aufgelehnt gegen das, was Genaro und der Nagual dir sagten«, fuhr sie fort. »Das ist's, warum du zurückgeblieben bist. Und du lehntest dich gegen sie auf, weil sie groß sind. So bist du eben. Aber gegen mich kannst du dich nicht auflehnen, weil du zu mir nicht aufblicken kannst. Ich bin dir gleichgestellt; ich bin in deinem Kreis. Du kämpfst gern gegen Leute, die besser sind als du. Meinen Standpunkt anzugreifen, ist keine Herausforderung für dich. So haben die beiden alten Teufel dich schließlich durch mich auf den Leim geführt. Armer kleiner Nagual, du hat das Spiel verloren.«
Sie rückte näher an mich heran und flüsterte mir ins Ohr, daß der Nagual ihr auch gesagt habe, sie solle niemals versuchen, mir mein Schreibzeug wegzunehmen, denn dies sei gefährlicher, als wenn man versuchte, einem hungrigen Hund einen Knochen aus dem Maul zu reißen.
Sie nahm mich in die Arme, legte ihren Kopf auf meine Schulter und lachte sanft und leise.
Ihr >Sehen< hatte mich betäubt. Ich wußte, daß sie völlig recht hatte. Sie hatte mich vollkommen durchschaut. Eine ganze Weile wiegte sie mich in den Armen und schmiegte ihr Gesicht an mich. Irgendwie war ihre körperliche Nähe sehr tröstlich. In dieser Hinsicht war sie genau wie Don Juan. Sie strahlte Kraft und Überzeugung und Willen aus. Es war falsch, wenn ich meinte, ich könne nicht bewundernd zu ihr aufblicken. »Wir wollen das alles vergessen«, sagte sie plötzlich. »Laß uns darüber reden, was wir heute abend zu tun haben.«
»Was haben wir denn heute abend zu tun, Gorda?«
»Wir haben unsre letzte Verabredung mit der Kraft.«
»Ist das wieder so ein furchtbarer Kampf mit irgend etwas?«
»Nein. Die Schwesterchen werden dir nur etwas zeigen, das deinen Besuch hier abschließen soll. Danach, sagte der Nagual, magst du gehen und nie wiederkehren, oder du kannst dich entscheiden, bei uns zu bleiben. Wie auch immer - was sie dir zeigen müssen, ist ihre Kunst. Die Kunst der Träumer.«
»Und was ist diese Kunst?«
»Genaro hat mir erzählt, daß er immer wieder versuchte, dir die Kunst der Träumer nahezubringen. Er zeigte dir seinen anderen Leib, seinen Traumleib; einmal bewirkte er sogar, daß du an zwei Orten gleichzeitig warst, aber deine Leere hindert dich, zu sehen was er dir zeigen wollte. Anscheinend fielen all seine Bemühungen durch das Loch in deinem Körper.
Jetzt aber scheint es so, als wäre es anders. Genaro hat die Schwesterchen zu den Träumern gemacht, die sie sind, und heute abend werden sie dir Genaros Kunst zeigen. In dieser Hinsicht sind die Schwesterchen echte Kinder von Genaro.« Dies erinnerte mich daran, was Pablito vorhin gesagt hatte, nämlich daß wir Kinder der beiden seien und daß wir Tolteken seien. Ich fragte sie, was er wohl damit gemeint hatte. »Der Nagual hat mir gesagt, daß die Zauberer in der Sprache seines Wohltäters Tolteken hießen«, antwortete sie. »Und welche Sprache war das?«
»Das hat er mir nie gesagt. Aber er und Genaro unterhielten sich manchmal in einer Sprache, die keiner von uns verstand. Und dabei versteht jeder von uns vier Indianersprachen.«
»Hat Don Genaro auch gesagt, daß er ein Tolteke sei?«
»Sein Wohltäter war derselbe Mann,
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