Don Juan 05 - Der zweite Ring der Kraft
bleiben, trug der Nagual mir auf, dir zu sagen, daß du dich an deine Kämpfe mit Soledad und den Schwesterchen erinnern und jede Einzelheit prüfen mußt, die dir mit ihnen passiert ist. Denn alles ist ein Omen für das, was dir auf deinem Weg widerfahren wird. Wenn du achtsam und makellos bist, wirst du herausfinden, daß diese Kämpfe Geschenke der Kraft waren.«
»Was wird Dona Soledad jetzt tun?«
»Sie geht fort. Die Schwesterchen haben ihr geholfen, ihren Fußboden auseinander zunehmen. Dieser Boden war ihr behilflich, die Aufmerksamkeit für das Nagual zu erreichen. Die Linien im Fußboden hatten die Kraft, dies zu bewirken. Jede dieser Linien half ihr, ein Teil dieser Aufmerksamkeit zu erringen. Unvollständig zu sein, bedeutet für manche Krieger kein Hindernis, diese Aufmerksamkeit zu erreichen. Soledad wurde verwandelt, weil sie schneller als wir alle zu dieser Aufmerksamkeit gelangte. Sie hat es nicht mehr nötig, ihren Fußboden anzustarren, um in jene andere Welt zu gelangen, und jetzt, wo sie den Fußboden nicht mehr braucht, hat sie ihn der Erde zurückgegeben, von der sie ihn einst bekam.«
»Ihr seid also wirklich entschlossen fortzugehen, Gorda?«
»Ja, wir alle. Darum habe ich dich gebeten, auf ein paar Tage zu verschwinden, damit wir Zeit haben, alles, was wir besitzen, zu beseitigen.«
»Und ich bin es, der einen Platz für euch finden muß, Gorda?«
»Wärst du ein makelloser Krieger, dann würdest du es einfach tun. Aber du bist kein makelloser Krieger, und wir sind es auch nicht. Trotzdem müssen wir unser Bestes tun, um mit der neuen Aufgabe fertig zuwerden.«
Ich empfand eine bedrückende Katastrophenstimmung. Ich war nie ein Mann gewesen, der gern Verantwortung übernahm. Ich fand, daß die Verpflichtung, sie zu führen, eine erdrückende Last war, der ich nicht gewachsen war.
»Vielleicht brauchen wir überhaupt nichts zu tun«, sagte ich. »Das stimmt«, sagte sie lachend. »Warum sagst du's dir nicht so lange vor, bis du dich sicher fühlst? Der Nagual hat dir doch so oft erklärt, daß die einzige Freiheit der Krieger darin liegt, sich makellos zu verhalten.«
Sie erzählte mir, wie der Nagual sich bemüht hatte, ihnen allen verständlich zu machen, daß Makellosigkeit nicht nur Freiheit bedeutete, sondern auch die einzige Möglichkeit war, die menschliche Form abzustoßen. Und dann berichtete ich ihr, wie Don Juan mich gelehrt hatte, die Bedeutung von Makellosigkeit zu verstehen. Wir beide wanderten eines Tages durch eine sehr enge Schlucht, als ein riesiger Felsblock sich aus seiner Einbettung in der Wand löste. Er rauschte mit enormer Wucht herab und landete zwanzig bis dreißig Meter von dort, wo wir standen, auf dem Grund der Schlucht. Wegen der Größe des Brockens war sein Sturz ein sehr eindrucksvolles Schauspiel. Don Juan nutzte die Gelegenheit, um mir eine dramatische Lektion zu erteilen. Er sagte, daß die Macht, die unser Schicksal führt, außerhalb von uns liegt und nichts mit unsren Taten oder unsrem Willen zu tun hat. Manchmal veranlaßt diese Macht uns, auf unserem Weg stehen zubleiben und uns zu bücken, um unsre Schnürsenkel zu binden, wie ich es eben getan hatte. Und indem die Macht uns zwingt stehen zubleiben, sorgt sie dafür, daß wir einen kostbaren Augenblick gewinnen. Wären wir nämlich weitergegangen, hätte der gewaltige Felsblock uns sehr wahrscheinlich zermalmt. Aber an einem anderen Tag, in einer anderen Schlucht wird dieselbe äußere Macht, die unser Schicksal bestimmt, uns abermals veranlassen, stehen zubleiben und uns zu bücken, um unsere Schnürsenkel zu binden, während ein anderer Felsblock sich genau über uns lösen wird. Indem diese Kraft uns zwingt stehen zubleiben, läßt sie uns einen kostbaren Augenblick verlieren. Würden wir diesmal weitergehen, dann wären wir gerettet. So verdeutlichte mir Don Juan, daß mir - da ich keinerlei Kontrolle über die Mächte habe, die mein Schicksal entscheiden - in jener Schlucht die einzig mögliche Freiheit blieb, meine Schuhbänder makellos zu binden.
La Gorda schien durch meinen Bericht gerührt. Sie griff über den Tisch und hielt einen kurzen Moment mein Gesicht zwischen den Händen.
»Für mich bedeutet Makellosigkeit, daß ich dir im richtigen Zeitpunkt sage, was der Nagual dir zu sagen mir aufgetragen hat«, sagte sie. »Aber die Kraft muß genau den richtigen Zeitpunkt bestimmen, wo ich's dir sage, sonst hätte es keinerlei Wirkung.«
Sie machte eine dramatische Pause. Ihr Zögern
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