Don Juan 05 - Der zweite Ring der Kraft
verstecken, und sie selbst könne fliegen. Doch sie seien nur Anfänger, Lehrlinge der Kunst. Sie mußten ihre Aufmerksamkeit für eine einzige Aktivität vervollkommnen. Genaro, so fügte sie hinzu, sei der Meister des >Träumens< gewesen. Er konnte die Welt zum Schwingen bringen, und seine Aufmerksamkeit galt sämtlichen Aktivitäten, wie wir sie auch im täglichen Leben verrichten; ihm galten die beiden Bereiche der Aufmerksamkeit gleich viel.
Ich fühlte mich gezwungen, ihnen meine üblichen Fragen zu stellen: ich mußte wissen, welche Vorkehrungen sie trafen, wie sie es machten, wenn sie die Bilder ihrer Träume festhielten. »Das weißt du ebenso gut wie wir«, sagte la Gorda. »Ich kann dir nur das eine sagen, daß wir, nachdem wir immer wieder in den gleichen Traum eingetaucht waren, allmählich anfingen, die Linien der Welt zu fühlen. Sie halfen uns zu tun, was du uns tun sahst.«
Don Juan hatte mir erklärt, daß unser >erster Ring der Kraft< sehr früh im Leben in Aktion tritt und daß wir uns dem Eindruck überlassen, damit habe es sein Bewenden. Unser >zweiter Ring der Kraft<, die Aufmerksamkeit fürs Nagual<, bleibt der überwiegenden Mehrheit verborgen und wird uns erst im Augenblick unseres Todes offenbart. Das >Träumen< ist also im wesentlichen die Verwandlung gewöhnlicher Träume in eine Sache des Willens. Wenn Träumer ihre Aufmerksamkeit für das Nagual üben und sie auf Sachverhalte und Vorgänge ihrer gewöhnlichen Träume richten, verwandeln sie diese Träume in >Träumen<. Und dann hatte Don Juan mir gesagt, daß es keine Verfahren gebe, um die Aufmerksamkeit für das Nagual< zu erreichen. Er hatte mir nur ein paar Stichwörter gegeben. Der erste Schritt war, in meinen Träumen meine Hände zu finden. Alsdann sollte ich die Übung meiner Aufmerksamkeit erweitern und bestimmte Gegenstände finden, nach bestimmten Eigentümlichkeiten, etwa Gebäuden, Straßen usw. suchen. Ein weiterer Schritt führte zum >Träumen< von bestimmten Orten, zu bestimmten Tageszeiten. Die letzte Stufe bestand darin, die Aufmerksamkeit für das Nagual< auf das ganze eigne Selbst zu richten. Diese letzte Stufe, so hatte Don Juan gesagt, wird gewöhnlich durch einen Traum eingeleitet, den viele von uns irgendwann haben und bei dem man sich selbst schlafend im Bett liegen sieht. Sobald ein Zauberer diesen Traum geträumt hat, ist seine Aufmerksamkeit dermaßen entwickelt, daß er, statt aufzuwachen - wie die meisten von uns es in einer ähnlichen Situation täten -, augenblicklich kehrt machen und sich irgendeiner Aktivität widmen kann, ganz als bewegte er sich in der Welt des täglichen Lebens. Von diesem Moment an gibt es einen Bruch, eine Spaltung der sonst geeinten Persönlichkeit. Wenn man die Aufmerksamkeit fürs Nagual< übte und sie zur Schärfe und Differenziertheit unserer alltäglichen Aufmerksamkeit für die Welt entfaltete, so war das Ergebnis - in Don Juans System - das andere Selbst, ein mit einem selbst identisches, aber beim >Träumen< geschaffenes Wesen. Don Juan hatte mir gesagt, daß es keine bestimmten Normschritte gibt, um diesen Doppelgänger zu lehren, wie wir ja auch keine bestimmten Schritte einhalten, um unser alltägliches Bewußtsein zu entwickeln. Wir tun es einfach durch Übung. Er behauptete, wir würden durch die bloße Betätigung unserer Aufmerksamkeit für das Nagual< schon die richtigen Schritte finden. Er forderte mich auf, mich im >Träumen< zu üben, ohne zuzulassen, daß meine Ängste es mit lähmendem Leistungsdruck belasteten. La Gorda und den Schwesterchen hatte er gleichlautende Anweisungen gegeben, aber anscheinend gab es bei ihnen etwas, das sie für die Vorstellung einer anderen Ebene der Aufmerksamkeit empfänglicher machte.
»Genaro war die meiste Zeit in seinem geträumten Körper« sagte la Gorda. »Er mochte ihn lieber. Deshalb konnte er auch die unheimlichsten Dinge tun und dir tödliche Angst einjagen. Genaro konnte durch den Spalt zwischen den Welten ein- und ausgehen, wie du und ich durch eine Tür gehen.« Auch über den Spalt zwischen den Welten hatte Don Juan mir viel erzählt. Ich hatte immer geglaubt, dies sei eine Metapher, eine spitzfindige Unterscheidung zwischen der Welt, wie der gewöhnliche Mensch sie wahrnimmt, und der Welt, wie die Zauberer sie wahrnehmen.
La Gorda und die Schwesterchen hatten mir gezeigt, daß der Spalt zwischen den Welten mehr als eine Metapher war. Vielmehr ging es dabei um die Fähigkeit, die Ebene der Aufmerksamkeit zu
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