Don Juan 05 - Der zweite Ring der Kraft
nächsten Morgen erwachte ich gegen acht Uhr und stellte fest, daß la Gorda meine Kleider in die Sonne gelegt hatte und das Frühstück bereitet hatte. Wir aßen in der Küche, am Eßtisch.
Als wir fertig waren, fragte ich sie nach Lidia, Rosa und Josefina. Sie schienen das Haus verlassen zu haben.
»Sie helfen Soledad«, sagte sie. »Sie macht sich bereit für die Reise.«
»Wohin geht sie?«
»Irgendwohin, weit weg. Sie hat keinen Grund mehr zu bleiben. Sie hat nur auf dich gewartet, und jetzt bist du gekommen.«
»Gehen die Schwesterchen mit ihr?«
»Nein, sie wollen nur heute nicht hier sein. Anscheinend ist heute für sie hier kein guter Tag.«
»Warum ist es kein guter Tag für sie?«
»Die Genaros wollen heute kommen, um dich zu besuchen, und die Mädchen vertragen sich nicht mit ihnen. Wenn sie mal zufällig zusammentreffen, gibt es immer den furchtbarsten Streit. Das letzte Mal hätten sie sich beinah gegenseitig umgebracht.«
»Werden sie richtig handgreiflich?«
»Darauf kannst du dich verlassen. Sie sind alle sehr stark, und keiner will hinter dem ändern zurückbleiben. Der Nagual hat mir gesagt, daß es so kommen würde, aber ich habe nicht die Kraft, es mit ihnen aufzunehmen. Und nicht nur dies - ich muß sogar Partei ergreifen; ein grauenhafter Zustand.«
»Woher weißt du, daß die Genaros heute kommen werden?«
»Ich habe nicht mit ihnen gesprochen. Ich weiß nur, daß sie heute hier sein werden. Das ist alles.«
»Weißt du es deshalb, weil du siehst, Gorda?«
»Richtig. Ich sehe sie kommen. Und einer von ihnen kommt direkt zu dir, weil du ihn anziehst.«
Ich versicherte ihr, daß ich keinen von ihnen besonders anzog, ja, daß ich keinem von ihnen den Zweck meiner Reise verraten hatte, daß es mir aber um ein paar Fragen ging, die ich mit Pablito und Nestor besprechen wollte.
Sie lächelte verlegen und meinte, daß das Schicksal eben Pablito und mich zusammengeführt habe, daß wir uns sehr ähnlich seien und daß zweifellos er mich als erster aufsuchen würde. Alles was einem Krieger passiert, fuhr sie fort, könne als Omen gedeutet werden; so seien meine Begegnungen mit Soledad ein Omen dafür, was ich bei meinem Besuch herausfinden würde. Ich bat sie, sich deutlicher zu erklären.
»Die Männer werden dir diesmal sehr wenig geben«, sagte sie. »Die Frauen sind's, die dich in Stücke reißen werden, wie Soledad es getan hat. Das jedenfalls würde ich sagen, wenn ich das Omen richtig verstehe. Du wartest auf die Genaros, aber sie sind Männer wie du. Und sieh mal, da gibt es noch ein weiteres Omen; sie sind ein wenig zurück. Ich meine, sie sind ein paar Tage zurück. Das ist euer Schicksal als Männer, deines wie ihres, daß ihr immer ein paar Tage zurück seid. »Hinter was zurück, Gorda?«
»Hinter allem. Hinter uns Frauen zum Beispiel.« Sie lachte und strich mir über den Kopf.
»Stell dich meinetwegen noch so stur«, sagte sie, »du mußt zugeben, daß ich recht habe. Warte nur, und du wirst sehen.«
»Hat der Nagual dir gesagt, daß Männer hinter den Frauen zurück sind?« fragte ich.
»Gewiß, das hat er gesagt«, erwiderte sie. »Und du brauchst dich nur umzusehen.«
»Das tu ich ja, Gorda, aber ich sehe nichts dergleichen. Die Frauen sind immer zurück. Sie sind von den Männern abhängig.« Sie lachte. Ihr Lachen war ganz frei von Hohn oder Bitterkeit; es war ein klarer Ausdruck von Fröhlichkeit. »Mag sein, du kennst die Welt der Menschen besser als ich«, sagte sie mit Nachdruck.
»Aber sieh mich an: ich bin formlos, und du bist es nicht. Und ich sage dir, Frauen sind bessere Zauberer, weil wir vor unseren Augen den Spalt haben, und ihr habt ihn nicht.«
Sie schien nicht verärgert, aber trotzdem fühlte ich mich verpflichtet, ihr zu erklären, daß ich nicht deshalb solche Fragen stellte und Bemerkungen machte, weil ich einen bestimmten Standpunkt angreifen oder verteidigen wollte, sondern weil ich mit ihr reden wollte. Sie sagte, sie hätte seit dem Augenblick meiner Ankunft nichts andres getan als mit mir reden — und der Nagual habe sie im Reden geschult, denn ihre Aufgabe sei die gleiche wie meine: nämlich in der Welt der Menschen zu sein. »Alles, was wir sagen«, fuhr sie fort, »ist eine Spiegelung der Welt der Menschen. Noch bevor dein Besuch zu Ende ist, wirst du herausfinden, daß du so redest und handelst, wie du's tust, weil du dich an die menschliche Form klammerst, genau wie die Genaros und die Schwesterchen sich an die menschliche Form
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