Donaugrund (German Edition)
richtig gelegen: Die Kratzer an der Brust sind kurz vor Wahlners Tod entstanden, wahrscheinlich tatsächlich durch Fingernägel, und auch die Verletzung am linken Oberschenkel ist prämortal. Sie stammt von einem dumpfen Aufprall.« Ein triumphierendes Lächeln erhellte ihre Züge für einen Augenblick. »Herbert hatte sofort den Gedanken, dass diese Verletzung entstanden sein könnte, als Wahlner mit Wucht über die Brückenbrüstung gestoßen worden ist. Er hat organisiert, dass die Höhe der Brüstung gemessen wird.«
»Und?«, fragte Raphael gespannt.
»Volltreffer. Die Höhe der Brüstung entspricht exakt der Stelle von Wahlners Verletzung, und der Melchior hat bereits bestätigt, dass Herberts Vermutung gut zutreffen kann. Und somit können wir Folgendes festhalten«, monologisierte sie geschäftsmäßig weiter und fixierte die weiße Wand, als versuchte sie hoch konzentriert, keine der erwähnenswerten Fakten unberücksichtigt zu lassen. »Der Täter greift Wahlner auf der Brücke an und bringt ihm die Verletzungen an der Brust bei. Wahlner nimmt ihn nicht ernst, dreht sich um und schließt seine Jacke. Der Täter dreht durch und stößt den unvorbereiteten Wahlner hinterrücks über die Brüstung – deshalb auch die Verletzung am linken Oberschenkel, nicht am rechten: Wahlner hatte sich schon längst wieder umgedreht und den Weg zurück zum Salzstadel eingeschlagen, genau wie Wunderlich gesagt hat.« Sie atmete tief durch. »Was schließen wir daraus?«
»Dass Wunderlich einigermaßen glaubwürdig ist. Und dass Wahlner seinem Mörder einen Mord absolut nicht zugetraut hat«, schloss Moritz folgerichtig und lächelte zufrieden, als Sarah und Raphael bestätigend nickten.
»Und«, fügte Sarah hinzu, »dass an meiner Theorie doch was dran sein könnte. Mobbing ist hinterlistig, wie du heute schon ganz richtig festgestellt hast.« Sie lächelte Raphael beschwichtigend an, um ihre Worte abzumildern. »Und wie würdest du es bezeichnen, wenn jemand einen anderen hinterrücks in die Donau stößt?«
»Ja, ja, schon gut«, brummte Raphael ohne große Begeisterung. »Vielleicht sollten wir noch mal darüber nachdenken.«
»Ich befürchte, dazu haben wir keine Gelegenheit mehr«, erwiderte Sarah mit einem plötzlich wütenden Kopfschütteln. »Das war nämlich Herberts schlechte Nachricht: Der Schneck tobt, anscheinend hat der Stadtparkvergewaltiger wieder versucht zuzuschlagen – zum Glück erfolglos. Aber bei der Kälte, das muss man sich mal vorstellen! Und bei der Gelegenheit ist dem Chef natürlich eingefallen, dass wir zu viert an diesem – ich zitiere – ›hirnrissigen‹ Fall arbeiten, der ohnehin nach nirgendwo führt. Daran hat auch Herberts Schilderung der Obduktionsergebnisse nichts geändert.« Genervt strich sie sich eine widerspenstige Strähne aus dem Gesicht. »Und jetzt will der Chef mit uns reden, und zwar pronto .«
»Scheiße.« Raphael verabscheute es, Ermittlungen ohne den geringsten Erfolg abzubrechen. »Aber vielleicht kriegen wir’s ja mit ein bisschen Diplomatie wieder hingebogen?«
Wenigstens noch ein paar Tage rausschinden. Denn wenn sie jetzt aufhörten, würde sich eine eventuelle Spur, so es sie denn gab, nur noch mehr verwischen. Und er hatte noch einen zweiten, weit weniger rationalen Grund dafür, dass ihn der Gedanke an das Ende der Ermittlungen beinahe mit Panik erfüllte. Er wusste, dass mit dem Ende der Arbeit an diesem Fall unweigerlich eine Entscheidung anstand. Sarahs Entscheidung. Und damit eine Entscheidung über sein ganz persönliches Glück. Mochte es noch so unlogisch klingen: Solange sie an der Aufklärung von Wahlners Tod herumlaborierten, konnte er sich wenigstens vorgaukeln, dass in seinem Leben Stillstand herrschte, dass sich nichts verändern würde, und genau das war das Einzige, was er wollte. Selbst wenn er dafür bis an sein Lebensende bei HEUREKA ermitteln musste.
»Diplomatie?«, fragte Moritz skeptisch. »Dann lässt du aber besser die Sarah reden.«
* * *
Kaum waren wir aus dem Hauseingang und um die Ecke auf den HEUREKA -Parkplatz getreten, schon steckte sich Moritz eine Zigarette an. Angesichts von Raphaels sehnsüchtigem Blick zerriss es mir beinahe das Herz.
»Dann rauch halt auch eine«, sagte ich und fing schon in der Tasche zu kramen an. »Als Einstimmung auf das Gespräch mit dem Schneck, hm?«
Raphael griff nach der Schachtel Lucky Strike in meiner Hand. »Scheiße, verdammte. So schwer kann das doch eigentlich gar nicht
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