Donner: Die Chroniken von Hara 3
vermochte es nicht zu erklären, aber er hielt seine Anwesenheit auf dem alten Friedhof der Hochwohlgeborenen nicht für Gotteslästerung. Vor allem, weil er hier, auf jenem Boden, in dem die Knochen der Erzfeinde seines Volkes Ruhe gefunden hatten, keinerlei Feindseligkeit empfand. Erdreich, Steine, Bäume und die sterblichen Überreste fragten nie danach, wer diesen Ort aus welchem Grund aufsuchte. Die Toten schliefen unter dem festen Tuch des Vergessens und träumten von einer Vergangenheit, von der all jene, die heute lebten, nichts mehr wussten.
Er hatte nicht bemerkt, wie er auf Knien an eine Grabplatte herangerutscht war. Der zur Hälfte von Blättern bedeckte Stein mit der abgebrochenen Ecke rechts oben und den vielen Rissen hatte seine Aufmerksamkeit auf sich gezogen.
Er konnte seine Neugier nicht bezwingen und fuhr mit den Fingerspitzen behutsam über den Rand des Steins. Kälte kroch ihm in die Glieder. Sie kletterte an den Fingern hoch, hüllte die Handgelenke ein, erfasste die Unterarme, wanderte weiter hinauf zu den Ellbogen, schmolz aber, noch ehe sie seine Schultern erreicht hatte. Die Gräber speicherten ungebrochen Magie, wenn auch in einem durch das Alter abgeschwächten Ausmaß. Sie vermochte ihm kein Leid mehr zuzufügen.
Trotzdem mied er jede überflüssige Berührung, als er den Stein von den Blättern befreite, um die klaren, halbrunden Buchstaben der elfischen Inschrift zu betrachten. Er konnte diese Schrift nicht lesen, obwohl er sich mit den Hochwohlgeborenen bei einer Begegnung durchaus zu verständigen wusste, indem er auf jene schlichten Wörter zurückgriff, die ihm nach den endlosen Übungsstunden noch im Gedächtnis geblieben waren. Wie alle jungen Falken hatte auch er in seiner Kindheit neben dem Fechten die Sprachen der anderen Völker im Imperium gelernt.
Während Rando noch in den Anblick der Grabplatte vertieft war, rief jemand seinen Namen. Als er sich umdrehte, sah er Luk, der gerade zwischen den Bäumen hervortrat. Er ließ einen Armvoll Brennholz neben den beiden Rucksäcken fallen und kam strahlend wie ein frisch geprägter Soren auf Rando zu.
»Habt Ihr ausgeschlafen, Euer Gnaden? Wir haben schon befürchtet, Ihr würdet den Schlag nicht überstehen.«
»Welchen Schlag?«
»Erinnert Ihr Euch etwa nicht mehr daran?!«, fragte Luk fassungslos. »Der Feind hat Euch ordentlich eins über den Helm gezogen. Womit, weiß ich nicht, aber der Helm hatte eine gewaltige Delle. Doch Meloth sei Dank, Ihr habt ja einen kräftigen Schäd… Kopf, Mylord.«
»Wer ist sonst noch bei dir?«
»Ga-nor und Kallen«, antwortete Luk und nahm einen Schluck aus der halbleeren Flasche. »Die beiden sind gerade auf der Jagd. Wir wollen ja schließlich was essen. Allein mit dem Zwieback halten wir nicht lange durch.«
»Was ist mit den anderen?«, erkundigte sich Rando mit finsterer Miene.
Luk rammte die Hände in die Taschen seiner Jacke, holte tief Luft und presste schließlich heraus: »Sonst hat niemand überlebt.«
Die Blätter auf dem alten Friedhof schienen sich mit Blut vollzusaugen. Das unerträgliche Rot schmerzte Rando in den Augen. Nach und nach kehrte die Erinnerung an die Ereignisse zurück. Der Feind hatte sie in dem Moment erwischt, als sie alle schon glaubten, sie seien der Verdammten entkommen. Genau da war eine magische Explosion erfolgt. Ein Pfiff, ein Schlag – danach war er in Ohnmacht gefallen. Was für ein ruhmloser Kampf! Nichts hatte er dem Feind entgegengesetzt! All seine Männer waren tot – er aber lebte, obgleich er doch an ihrer Seite hätte liegen sollen …
Ihre drei Gruppen hatten das Dorf zur Stunde des Wolfes verlassen, als das schlechte Wetter seinen Höhepunkt erreichte. Das Wasser im Fluss schäumte, er trat fast über die Ufer und schoss doppelt so schnell wie gewöhnlich dahin. Die Flöße, die sie in aller Schnelle gezimmert hatten, wurden vom Ufer weggerissen und verschwanden im Nu im Dunkel, um die Verwundeten und ihre Begleiter gen Norden zu bringen.
»Da fahren sie also«, sagte Woder und knirschte mit den Kieferknochen. »Möge Meloth ihnen beistehen. Aber Glum wird sie schon durchbringen, da bin ich mir sicher.«
Rando nickte. Er hatte seinen vertrauten Harnisch gegen einen leichteren eingetauscht, der für lange Fußmärsche bequemer war. Den Brustpanzer, die Schulterplatten, die Armschienen und den offenen Helm ohne Visier hatten die besten Schmiede aus Morassien gefertigt. Sie kamen dem Ritter so schwerelos vor, dass er sich in ihnen
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