Donner: Die Chroniken von Hara 3
Frau. Die Statue lächelte, stand ein wenig vorgebeugt und streckte Alenari die Hand entgegen. Am Ringfinger funkelte ein Ring. Der Bildhauer hatte das Wappen so meisterlich nachvollzogen, dass die gespannten Flügel eines Falken zu erkennen waren. Im Mondlicht leuchtete der glatte Stein rosafarben. Alenari meinte fast, eine Frau aus Fleisch und Blut vor sich zu haben.
Sie hätte nicht zu sagen vermocht, wie viel Zeit sie reglos vor der Statue zubrachte. Der Uyg wartete geduldig neben ihr, gleichsam selbst zu einem Standbild verwandelt. Inniger und inniger verschmolz der Blick derjenigen, die einst als schönste Frau in der gesamten Geschichte des Imperiums gegolten hatte, mit dem jener Frau, die schon seit Langem tot war.
Erst als die Kälte Alenari bis auf die Knochen durchdrungen hatte, kam sie wieder zu sich. Sie warf sich den Umhang über die Schultern und eilte davon.
Wie sie vermutet hatte, gab es den Kirschgarten, in dem sie in ihrer Kindheit so gern gespielt hatte, nicht mehr. Junge Apfelbäume hatten die alten Kirschbäume verdrängt. Sie bog in einen schmalen Pfad ein und kam schon bald zu einem Teich. Im Unterschied zu allem anderen fand sie ihn unverändert vor.
Der mondrunde Teich glitzerte ölig. In ihm spiegelten sich die Sterne. Da es in diesem Teil des Gartens dunkler war, schuf Alenari abermals Leuchtkugeln. Sie umrundete den Teich, den Blick auf die ruhige Wasseroberfläche gerichtet. Früher hatte es hier zahlreiche Karpfen gegeben. Ob das wohl noch immer so ist?, überlegte Alenari, bezweifelte es jedoch. Das Regenbogental war im Verfall begriffen, da hatte niemand die Muße, sich um Fische zu kümmern.
Als sie damals in die Schule eingetreten war, hatte sie viele Geschichten gehört, in denen es hieß, am Grund des Teiches lebe der Imperator der Karpfen, den der Skulptor selbst dort hineingesetzt habe, damit er auf das Regenbogental achte.
Bei allen Sternen Haras! An was für Albernheiten sie in ihrer Kindheit doch geglaubt hatte!
Mit einem Mal knurrte der Uyg und transformierte sich im Bruchteil einer Sekunde, um als blaue, körperlose Sternschnuppe ein Stück nach vorn zu springen und sowohl seine Herrin abzuschirmen als auch die Umgebung in ein totes Licht einzutauchen, das den Augen gewöhnlicher Menschen Schmerzen verursachte.
Ein massiver Mann trat in diesen Lichtkreis, ging in die Hocke und streckte die Hand nach dem Maul mit den gebleckten Zähnen aus.
»Marhaba, ya sadyki al’kadim.
Sei gegrüßt, alter Freund
«, wandte er sich an den Uyg.
Dieser verwandelte sich daraufhin zurück, das blaue Licht erlosch. Nachdem das Tier widerwillig und einzig aus Ehrerbietung gegenüber dem Mann sacht mit dem Schwanz gewedelt hatte, suchte es sich einen Platz im Schutz der Bäume, um das Geschehen von dort aus aufmerksam zu verfolgen.
Der Mann erhob sich, trat zwei Schritte vor und ließ sich vor Alenari aufs Knie nieder.
»Achlan, ya nadshamata chayati.
Ich grüße Euch, Stern meines Lebens.
«
»Kum min al’-arad, Ka! Lyastu fi chadzha li-rukui amami.
Steh auf, Ka! Du brauchst dich vor mir nicht aufs Knie niederzulassen
«, erwiderte Alenari.
Der Mann namens Ka hatte ungewöhnlich breite Schultern, sein Äußeres erinnerte kaum an einen Sdisser, dafür war er zu blond und helläugig, hatte er einen zu schweren Knochenbau. Zudem trug er einen Bart, wie er in der Goldenen Mark gerade Mode war, ein echtes Schandmal für jeden Sdisser. Man hätte in ihm nie einen Nekromanten, noch dazu einen Nachfahren aus dem verehrten Geschlecht Sakhal-Neful, vermutet.
Heute trat Ka als Adliger auf. Diese Maskerade hatte sein Auftrag von ihm verlangt.
»Wo ist dein Bruder?«, wollte Alenari von ihm wissen, nun in der Sprache des Imperiums.
»Dawy achtet darauf, dass niemand unsere Unterhaltung stört. Wir haben alles vorbereitet, Gebieterin.«
»Wie viel Männer hast du bei dir?«
»Zwölf. Zwei weitere haben den Pass bereits überquert. Wir warten nur auf Euren Befehl.«
»Ihr müsst nach Norden ziehen und einen Mann für mich finden. Dieser Auftrag könnte aber gefährlich werden.«
»Sorgt Euch deshalb nicht, Gebieterin. Entweder erfüllen wir den Auftrag oder wir sterben.«
»Ich brauche diesen Mann. Er ist noch jung. Und er besitzt die Gabe des Heilers.«
Ka zog zwar eine Augenbraue hoch, stellte aber keine Frage.
»Ihr müsst mich sofort davon unterrichten, wenn ihr ihn aufgespürt habt. Möglicherweise befindet sich Thia in seiner Begleitung. Achtet darauf, ihr auf keinen Fall zu
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