Donner: Die Chroniken von Hara 3
Gesicht. Die Winkel ihres altersschlaffen Mundes zogen sich in tiefen Falten zum Kinn. Schwäche und Schwindel suchten sie erneut heim, diese ersten Vorboten kommenden Schmerzes. In wenigen Stunden würde eine heiße Welle über sie hinweggehen, die ihre Schläfen in eine eiserne Zange nehmen, sich erbarmungslos in ihr Hirn bohren und schließlich ihren ganzen Körper peinigen würde. Und die ihr jeden Willen sowie die Fähigkeit, klar zu denken, rauben würde. Die sie zwänge, mit zusammengebissenen Zähnen all diese Qualen zu erdulden, bis der Anfall, der ihr Fleisch versengte, abklang.
In solchen Momenten verfluchte Gilara ihren eigenen Funken, diese nutzlose Gabe, die es ihr nicht einmal gestattete, der tödlichen Marter Herr zu werden. Ihre Magie, die langen Jahre, die sie für ihre Ausbildung geopfert hatte – all das hatte ihr nur eine vermeintliche Macht verliehen, nur den Wahn echten Könnens. Denn dem Tod vermochte auch sie nicht die Stirn zu bieten. Ihm zu entkommen – dazu waren einzig die Verdammten imstande.
Ein Gedanke, mit dem Gilara sich nicht abzufinden gedachte. Nicht bei ihrem inbrünstigen Hass auf jene Abtrünnigen. Nicht, solange sie keine Antwort auf die Frage erhielt, warum Meloth ihr, seiner treuen Tochter, diese Kreaturen vorzog.
Und warum musste sie ausgerechnet jetzt sterben, da die Schule im Regenbogental ihre schwerste Stunde durchlebte? Zumal ihre Nachfolgerin noch immer nicht eingetroffen war. Dabei hatte sie Ceyra Asani doch bereits Ende des Frühlings darum gebeten, sie von ihrem Amt zu entbinden. Doch die Mutter schwieg, und Gilara musste unter Schmerzen tagtäglich Stunden im Stuhl der Leiterin zubringen, Hunderte von Entscheidungen treffen, durfte ihre letzten Tage nicht in Ruhe und Frieden verleben.
Vor gut zwei Wochen, als sie ihre Pein bereits bar jeder Hoffnung auf eine Antwort aus dem Turm ertrug, hatte sie dann endlich einen Brief von Ceyra Asani erhalten, in dem diese Irla zu ihrer, Gilaras, Nachfolgerin bestimmte.
Die Wahl hatte sie mehr als verblüfft. Was mochten im Turm für Dinge vorgehen, wenn Ceyra ihre Erzfeindin für dieses hohe Amt auserkor? Doch ihr blieb nicht die Muße, über die Frage nachzusinnen, warum diese beiden Rivalinnen nach all den Jahren an einem Strang zogen. Sie begehrte nur noch eins: ihre Pflichten so schnell als möglich ihrer Nachfolgerin zu überantworten und das Regenbogental zu verlassen, damit niemand sie mehr mit den Belangen der Schule behelligen konnte.
Diese Hoffnung indes schwand von Sekunde zu Sekunde.
Vor wenigen Tagen nun hatte sie neue Kunde aus dem Süden erreicht. Schlimme Kunde: Alsgara wurde belagert, einer der Verdammten stand vor den Mauern der Stadt. Niemand aus dem Turm konnte die Stadt verlassen. Folglich durfte sie in der nächsten Zeit wohl kaum mit Irlas Ankunft rechnen.
Im Osten des Landes standen die Dinge nicht besser. Die Armee Nabators belagerte Gash-shaku, Altz war bis auf die Grundfesten niedergebrannt worden. Die Bluttäler schienen bereits weitgehend in der Hand des Feindes. Wie es am Adlernest aussah, wusste niemand, Okny hatte sich ergeben, mittlerweile tobten die Kämpfe bereits an der Treppe des Gehenkten.
All diese besorgniserregenden Neuigkeiten deuteten darauf, dass sich der Süden des Imperiums nicht über den Winter würde retten können. Damit schwebte die Schule in unmittelbarer Gefahr. Früher oder später würden die Feinde ihre Aufmerksamkeit auf sie richten. Dann wäre nicht nur die Zukunft des Landes bedroht, sondern auch der Funke selbst.
Deshalb hatte Gilara beschlossen zu handeln, weder auf die Ankunft Irlas zu warten noch die Billigung der Mutter einzuholen: Die Schüler und Schülerinnen mussten das Tal verlassen und sich mit den Lehrkräften an einen möglichst weit entfernten Ort begeben, an dem sie sicher vor dem tödlichen Krieg waren.
Sie hatte die Lehrer und Lehrerinnen im Saal Cavalars versammelt, um ihnen diesen Entschluss mitzuteilen. Nicht alle hatten ihn gebilligt, denn solche Fragen sollten nicht entschieden werden, ohne dass der Turm sein Einverständnis gab. Sicher, sie hatte sich mit dieser eigenmächtigen Weisung eine ungeheure Verantwortung aufgebürdet, doch das beunruhigte sie nicht. Und das hatte sie Alia Maxi, der Wortführerin der Kritiker und Kritikerinnen, auch unmissverständlich klargemacht.
Das Leben ihrer Schüler und Schülerinnen bereitete ihr, Gilara, weitaus mehr Kopfzerbrechen als die Möglichkeit, sich den Zorn Ceyra Asanis zuzuziehen, die
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