Donner: Die Chroniken von Hara 3
Hunderte von Leagues entfernt weilte.
Dieses Argument hatte sich als überzeugend erwiesen. In der Tat, der Turm und die Mutter waren weit weg, die Armeen der Verdammten jedoch nahe.
Noch am selben Tag hatte man angefangen, das Regenbogental zu evakuieren. Zunächst wurden die jüngsten Schüler und Schülerinnen fortgebracht.
Die verängstigten Kinder, die kaum verstanden, was geschah, sollten sich nach Loska begeben und von dort aus über Burg Donnerhauer weiter nach Norden ziehen. Nach Korunn, das der Krieg noch nicht erreicht hatte, in den zweiten Turm der Schreitenden, der den Schutz des Koloss genoss.
Gestern hatten die obersten Klassen das Regenbogental verlassen. Sie würden ihre Abschlussprüfungen, in denen sie ihre Fähigkeit, den Funken vorbehaltlos zu kontrollieren, unter Beweis stellen mussten, im nächsten Jahr ablegen. Ihnen hatte sich der größte Teil des Lehrkörpers und der Dienerschaft angeschlossen. Geblieben waren somit einzig diejenigen, die sich weigerten zu fliehen.
Die große Schule war verödet.
In den endlosen Gängen ließ sich kein Gelächter, kein Schwatzen mehr vernehmen, in den Klassen leierte niemand mehr mit monotoner Stimme die Zaubersprüche herunter, in der Bibliothek brannten keine magischen Kugeln mehr, ja, schlimmer noch, die Bibliothek gab es überhaupt nicht mehr, denn alle wertvollen Bücher waren fortgeschafft worden. Ebenso die Artefakte.
Das Herz der Schule, ihr Fleisch und Blut, befand sich fernab vom Regenbogental …
Als jemand an der Tür klopfte, schlug Gilara verärgert die Augen auf.
»Ja«, rief sie.
Algha betrat lautlos das Zimmer. Die junge Frau wirkte wegen ihrer golden schimmernden Haut wie eine Bewohnerin aus den südlichen Provinzen. Sie war nicht sehr hochgewachsen, aufbrausend, hinterhältig, stur, zuweilen geradezu unerträglich und ein wenig eitel, andererseits aber auch ungemein begabt und treu. Letzteres hatte sie veranlasst, im Regenbogental an der Seite ihrer Lehrerin zu bleiben, selbst wenn Gilara ihr noch gestern strikt befohlen hatte, zusammen mit den anderen fortzugehen.
Ihre Freude darüber, dass Algha geblieben war, gestand sich Gilara nicht einmal selbst ein. Denn wäre auch dieses Mädchen gegangen, würde ihr die Einsamkeit vermutlich noch mehr zusetzen, als sie es ohnehin tat.
»Fühlt Ihr Euch nicht wohl, Herrin?«, erkundigte sich Algha, kaum dass sie den Becher mit der kalt gewordenen Neige des Aufgusses erblickte.
»Das ist keine Medizin«, antwortete Gilara gelassen. »Sondern lediglich ein Trank, der meine Müdigkeit vertreibt.«
Die schwarzen Brauen Alghas zogen sich zweifelnd zusammen, die braunen Augen spiegelten Misstrauen. »Aber Amarant, vermengt mit Kornblumen, soll doch …«
»Es ist alles in Ordnung, Algha, mir geht es ausgezeichnet. Du brauchst dir wirklich keine Sorgen um mich zu machen. Wolltest du mir etwas mitteilen?«
Da Algha begriff, dass das Gespräch über die Gesundheit ihrer Lehrerin nicht vertieft werden würde, beantwortete sie lieber die letzte Frage: »Es geht um Alia Maxi, Herrin. Sie und die anderen Angehörigen der Schule sind Eurer Bitte nachgekommen, sich im Saal der Schneewolken zu versammeln. Sie erwarten Euch dort.«
»Hervorragend«, sagte Gilara und erhob sich bedächtig von ihrem Stuhl. Auf ihren Stock gestützt, versuchte sie, das Schwindelgefühl zu vertreiben. »Gehen wir, mein Mädchen. Wir wollen unsere Freundin doch nicht über Gebühr warten lassen.«
»Unsere Freundin?«, fragte Algha verächtlich zurück. »Verzeiht mir die Offenheit, Herrin, aber Alia Maxi würde ich, bei allem Respekt Euch gegenüber, nicht als Freundin bezeichnen. Wenn diese Schlange nicht gewesen wäre …«
»Ich verbiete dir, in diesem Ton über die Leiterin der höheren Klassen zu sprechen!«, fiel ihr Gilara ins Wort. »Überhaupt solltest du deine Worte in Zukunft besser abwägen! Lass dir das gesagt sein, denn du bist zu jung, als dass du bestimmte Dinge laut aussprechen dürftest. Das könnte übel für dich enden. Alia ist eine einflussreiche Frau und enge Freundin Ceyra Asanis. Sie könnte dir ohne Weiteres Hindernisse in den Weg stellen und damit deinen Aufstieg vereiteln. Dann wären dir die Türen zum Rat der Schreitenden ein für alle Mal verschlossen. Und du willst doch nicht unter deiner allzu flinken Zunge leiden, oder, mein Mädchen? Sei also bitte fürderhin so gut und behalte deine Meinung für dich.«
Sie verließen das Zimmer und traten in einen kalten, verschmutzten Gang
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