Donnerstags im Fetten Hecht: Roman (German Edition)
weiter, über den Platz des Himmlischen Friedens und an einem Teilstück der Chinesischen Mauer vorbei. Den Ausgang sah er dann endlich auf der anderen Seite eines zugefrorenen Seerosenteiches, über den eine filigran geschwungene Brücke führte. Schlotternd lief er hinaus ins Freie.
Durch die schon wieder beschlagenen Gläser seiner Brille nahm Siebeneisen ein pompöses Gebäude direkt vor ihm wahr, das aussah wie ein schlecht designtes Ufo. Aus seinem Innern drang eine malmende Geräuschkulisse. Das musste die Halle des Bieres sein, dachte er. Und die Halle des Bieres, das hatten sie ihm im Hotel erzählt, war das Zentrum des Oktoberfestes von Qingdao. Der Ort, an dem er die Person finden würde, nach der er suchte.
Also war er hineingegangen in dieses Monstrum kommunistischer Architekturkunst, in dem mindestens 5 000 Chinesen dabei waren, sich die Kante zu geben. Hatte sich am ersten Tisch vorbeimogeln können und am zweiten ebenfalls noch, aber nach dreißig oder vierzig Metern zerrten und zogen so viele Menschen an ihm, dass er sich auf einen freien Plastikstuhl fallen ließ. Siebeneisen musste sich gar nicht vergewissern – er wusste auch so, dass er der einzige Nicht-Chinese in der Halle des Bieres war. Qingdao lag fernab jeglichen touristischen Interesses, hier fuhr niemand hin, daran änderten auch die »Ozean frischer!«-Broschüren nichts. Und wenn doch, besuchte niemand in aller Herrgottsfrühe ein Bierfest. Nein, Siebeneisen war allein und obendrein aus Deutschland, ein Abgesandter jener Nation, die hier in Qingdao das Bierbrauen eingeführt hatte. Anders gesagt: Er war ein gefundenes Fressen für jeden trinkseligen Besucher.
Das alles war jetzt sechs Stunden her. Oder auch acht. Siebeneisen konnte sich nicht daran erinnern, an irgendeinem anderen Ort auf seiner langen Reise jemals so sprachlos gewesen zu sein. Niemand verstand ihn, und er verstand ebenfalls niemanden. Er hatte schon vor geraumer Zeit aufgehört, mit anderen Besuchern reden zu wollen – er wollte nur noch, dass der Mann, auf den er wartete, endlich kam. Bislang allerdings waren ausschließlich Trachtenkapellen aufgetaucht. Sie hatten auf der Bühne in der Mitte des Ufos alles intoniert, was die bayerische, steirische und böhmische Musikgeschichte an Schenkelklopfern und Gassenhauern hergab, und Siebeneisen war sich sicher, auch eine pentatonisch angehauchte Version von »Fest soll mein Taufbund immer stehen« erkannt zu haben, aber was wusste er denn schon. Außerdem war er mit Lobpreisen beschäftigt.
»Yüllgengloohb!« , rief jetzt einer weiter links am Tisch, »Yüllgengloohb!!«
Siebeneisen hob einen der 134 vollen, halb vollen und halb leeren Plastikbecher vom Tisch und erwiderte den Trinkspruch.
»Yüllgengloohb! Good! Very good!« Er kippte die laue Plörre hinunter.
Natürlich wusste er inzwischen, auf wessen Wohl er da eben getrunken hatte. Im Laufe des Nachmittages und mit zunehmendem Alkoholspiegel war es ihm gelungen, die Trinksprüche und Toasts seiner Gastgeber zu verstehen, und das ganz ohne Kenntnisse der Landessprache. Als das Drama sich entfaltet hatte, war das noch unmöglich gewesen, genauso gut hätte er altbabylonische Erntedankgesänge dechiffrieren können, aber jetzt wusste er, dass es sich bei Yüllgengloohb! um Deutschlands berühmtesten Fußballtrainer handelte. Zuvor hatte er schon auf das ewige Wohl von Menschen wie Pudolllskyh und Meeemuttözzil angestoßen, Swoinnstoigggl hatte er mehrmals rühmen müssen, und es musste gegen Mittag gewesen sein, als er begonnen hatte, nicht nur die Bundesliga, sondern auch und vor allem die Satellitenschüsselindustrie sowie sämtliche Fußballspartensender dieser Welt zur Hölle zu wünschen. Beziehungsweise in die Halle des Bieres, was so ziemlich das Gleiche sein musste.
Wie konnte man ein Oktoberfest überhaupt mitten im Hochsommer ausrichten? Draußen waren es 43 Grad, mindestens, und hier drinnen höchstens zwei weniger, und Siebeneisen hatte schon seit geraumer Zeit das Gefühl, er befinde sich im Zentrum eines Raum-Zeit-Vakuums, in dem die Minuten nicht verrinnen wollten und jede Veränderung der physischen Position unmöglich war. Er konnte nur auf seinem weißen Plastikstuhl sitzen und versuchen, den enormen Flüssigkeitsverlust auszugleichen, indem er auf jeden neuen Fußballspieler hocherfreut einen Becher Plörrebier Richtung Decke hob. Und anschließend auf einen Zug leerte.
Die Menschen um ihn herum waren nicht betrunken – sie waren
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