Donnerstags im Fetten Hecht: Roman (German Edition)
er, wie Wipperfürth mit den Fingern seiner ausgestreckten rechten Hand ein Victory-Zeichen formte.
»So weit, so gut …« Ó Cinnéide hatte seinen Faden verloren. Er schaute auf den Brief, den er am Vortag erhalten hatte. Was wollte er als Nächstes sagen? Warum brachte es nicht einfach hinter sich?
»Ich muss Ihnen allerdings mitteilen, dass mit Eintreffen dieses Schreibens gestern Abend eine Veränderung der Situation eingetreten ist.« Zu Untermalung seiner Worte hielt er den Brief kurz in die Luft, als sei er ein römischer Senator und habe soeben schlechte Nachrichten aus Karthago erhalten.
»Ich will es kurz machen: Sie sind nicht vollzählig. Matthew O’Shady, den die indischen Behörden vor mehreren Monaten offiziell für tot erklärt haben, lebt. Er ist vor zwei Tagen aus einer sechsmonatigen Meditation erwacht. Leider haben wir ihn verpasst. Nach Angaben der Tempelverwaltung hat er sich auf eine Pilgerwanderung nach Nordindien begeben.«
Das war’s, dachte Nathan Ó Cinnéide. Für einen Moment lauschte er seinen Worten hinterher, wie sie sich aufmachten auf ihren Weg über die Schreibtischplatte, hinein in sein Büro, hinein in die Stille, hinein in das Schweigen. Zum wer weiß wievielten Male an diesem Tag versuchte er, tief durchzuatmen. Nun funktionierte es. Es war, als habe sich eine eiserne Klammer um seinen Brustkorb geöffnet, als sei ihm ein Gitter von der Seele genommen – als hätten ihm die gnädigen Götter soeben mal flugs ein neues Leben geschenkt. Einen Moment ließ er noch verstreichen. Dann hob der Notar und Nachlassverwalter sehr, sehr langsam den Kopf und sah den O’Shadys vor ihm in die Augen.
Das heißt: Er wollte ihnen in die Augen sehen. Die O’Shadys allerdings sahen ihn nicht an. Alle acht hatten sich in ihren Stühlen umgedreht und schauten nach hinten.
Zur Sitzecke.
Zu Siebeneisen.
EPILOG
(Donnerstags im Fetten Hecht, drei Wochen später.)
»Aber dann müsste er in Eriwan, Kiew und Nowgorod die Maschine wechseln. Und hätte in Delhi auch nur eine knappe Stunde, um vom Internationalen Flughafen zu dem für die Inlandsflüge zu kommen …«
»Eine knappe Stunde? Das schafft man locker. Überhaupt kein Problem.«
»Glaubst du wirklich? Ich fürchte, das könnte eng werden. Die beiden Flughäfen liegen fast 20 Kilometer auseinander. Er muss sich ja auch um sein Gepäck kümmern. Und wenn er den Anschluss verpasst, fallen wahrscheinlich Umbuchungsgebühren an. Wie war noch die andere Verbindung, die du gefunden hattest?«
»Mit Masala Airlines. Mit denen wäre er über Baku und Peshawar in nicht mal 44 Stunden in Delhi. Von dort bis nach Rishikesh sind es dann nur nochmal drei mit einer kleinen Propellermaschine. Allerdings müsste er in Delhi übernachten, am gleichen Tag gibt es keine Verbindung mehr. Das Ticket wäre aber auch fast 200 Euro preiswerter als das andere.«
»Im Ernst? Dann sollten wir das buchen. Ein Hotelzimmer in Delhi kostet ja wohl nicht die Welt, da finden wir bestimmt eine kleine, einfache Pension irgendwo nahe beim Flughafen. Er soll einfach ein paar von seinen gelben Magazinen einstecken, damit er was zu lesen hat. Mit der richtigen Lektüre vergeht so ein Flug doch wie im Flug.«
Wipperfürth und Schatten standen am Tipp-Kick-Tisch im Fetten Hecht, dessen Spielfeld unter mehreren Lagen Landkarten, Reiseführern, Flugplänen und Broschürensammlungen des Indischen Fremdenverkehrsamtes begraben war. Weil die beiden sämtliche Partien seit Siebeneisens Rückkehr haushoch verloren hatten, wurde donnerstags im Fetten Hecht kein Tipp-Kick mehr gespielt. Zumindest vorerst. Stattdessen hatten Schatten und Wipperfürth mit der Feinplanung für Siebeneisens Reise nach Indien begonnen, wo er den letzten, dieses Mal aber wirklich allerletzten noch fehlenden Erben ausfindig machen sollte.
Walburga hatte ihnen zwei weitere Flaschen Bier gebracht und dabei einen Blick auf die große Landkarte geworfen, die ganz oben auf den Papieren lag. In der hatte Schatten die vermutete Route von Matthew O’Shady eingetragen: Sie führte aus Delhi nach Norden, allerdings nicht entlang einer der Hauptstraßen, sondern in schlingernden Kurven, auf denen alle fünf oder sechs Milimeter eine Stelle mit einem Kugelschreiber-Kreuz markiert war. Schatten und Wipperfürth vermuteten, dass der Guru auf seiner Pilgerschaft keine einzige der vielen heiligen Hindu-Stätten auslassen würde. Deswegen der Schlingerkurs. Deswegen die Kugelschreiber-Kreuze. Auf der Karte sah es
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