Doppelte Schuld
mehr auf zu reden, wenn sie allein waren. Wie leicht er es ihr machte. Sie erzählte ihm viel, zu viel, in seiner Nähe ließ die Erinnerung auch das frei, was sie sorgsam verschlossen hatte, weil es weh tat. Es dauerte lange, bis sie merkte, daß er ihr nur das nötigste erzählte. Es dauerte lange bis zum ersten Kuß. Es dauerte sehr lange, bis sie begriff, was ihn trieb. Und es dauerte viel zu lange, bis sie endlich merkte, was zu Hause geschah. Wenn sie ehrlich war: Sie hatte es bis zuletzt nicht wirklich verstanden.
Ihr Vater Wilhelm und die anderen hatten in den ersten Wochen jeden Abend mit dem Essen auf sie gewartet. Später hatte man ihr das Essen in den Backofen gestellt. Und noch später …
Das Gesicht ihres Sohnes. Das ernste Bubengesicht mit den leicht schrägen blauen Augen und dem dichten Haarschopf. Fragend, unsicher, zögernd. Als ob er sie nicht mehr richtig kannte.
Sie kam oft spät zurück, der Kleine lag dann meistens schon im Bett. Amelie hatte dafür gesorgt, »der Kleine war todmüde«, sagte sie, wenn sie noch wach war und mit den anderen in der Küche saß, »er hat den ganzen Tag geholfen, nicht, Friedrich?« Bei der Heuernte. Beim Kartoffeln ausmachen. Beim Einkochen von Zwetschgenmus. Beim Ernten der riesengroßen Kürbisse, die auf dem Komposthaufen wuchsen. Wilhelm hatte dem Kind beigebracht, seinen Namen in die gelben Riesen einzuritzen, solange sie noch klein waren. Der Name wuchs mit den Kürbissen – und einmal hatte der Kleine ihr ein Stück der Kürbisschale aufgehoben. »Liebe Mama«, stand darauf, in ungelenken, wulstigen Lettern. Sie hatte fast geheult.
Manchmal kam sie so spät nach Hause, daß nur noch Vater und Friedrich am Küchentisch saßen. Meistens war sie zu müde, um zuzuhören. Aber den einen Satz, den behielt sie im Gedächtnis, er faßte alles zusammen, was damals geschah, in den Jahren nach dem Krieg. Er klang wie ein erleichtertes Ausatmen. »Das hat Zukunft.« Wilhelm sagte es, Friedrich nickte. Wenn Friedrich es sagte, nickte Wilhelm.
Sie machten Pläne. Endlich machte Wilhelm wieder Pläne, statt zu trauern: um Jechow. Um Mutter. Und um die Vergangenheit. »Das hat Zukunft.« Zukunft hatte Landwirtschaft, die sich dem Großen öffnete. Zukunft hatten die neuen gigantischen Maschinen, deren Einsatz sich nur lohnte, wenn die Flächen groß genug waren. Oder wenn es genug Bauern gab, an die man sie ausleihen konnte.
Es war das Jahr 1948, in dem der Marshallplan in Kraft trat. Das Jahr der Berlin-Blockade. Das Jahr, in dem Wilhelm Abschied von der Hoffnung nehmen mußte, Jechow jemals wiederzusehen. Es war das Jahr des Neuanfangs. Der erste rote Riese in Wilhelms Fuhrpark war ein Allis Chalmers Harvester, und oben auf dem Ledersitz thronte strahlend der Kleine. Sein Großvater hatte den Arm um ihn gelegt.
Das Bild mit dem Kleinen auf dem roten Monster würde sie nie vergessen, obwohl sie es nur von einem Foto kannte, das Wilhelm von Bergen an diesem Tag machte, an dem sein neues Leben begann. Er trauerte nicht mehr. Aber zum Glück, zum runden, satten Glück, fehlte ihm, was verloren war: Mutter. Und Jechow.
Mary stiegen die Tränen in die Augen. Man wurde offenbar zwangsläufig sentimental, wenn man alt ist. Lux bewegte sich unruhig zu ihren Füßen. Sie goß Wein nach, hätte fast etwas verschüttet dabei. Erinnerung ist tückisch. Nicht weil sie täuscht. Sondern weil sie immer präziser wird, ausgerechnet da, wo es schmerzt. Sie nahm einen tiefen Schluck und spürte dem Wein hinterher, der kühl die Kehle hinunterlief und schließlich dort ankam, wo er ein warmes Gefühl auslöste. Irgend etwas beschleunigte den Erinnerungsprozeß, die Bilder schoben sich übereinander wie Skatkarten.
Januar 1945. Der letzte Abend in Jechow. Auf dem Eßtisch stand noch das Geschirr. Über einem der Stühle hing die Schürze der Köksch, und die Kerzen im silbernen Kerzenleuchter flackerten. Sie hatte die Tür aufgelassen, damit die eisige Nacht ins Haus konnte. Dann war sie davongeritten.
Nicht, daß sie jemals an eine Rückkehr nach Jechow gedacht hätte, in das große und immer etwas zugige Gutshaus der Familie ihres Vaters, und sie wußte auch nicht, ob sie heute dort leben wollte, wenn es möglich wäre, wenn das Haus noch stünde, wenn die Politik anders mit den Menschenleben verfahren wäre: in einem ostpreußischen Gutshaus, in dessen Winkeln die Jahrhunderte hockten, wo der Geist der Ahnen die Vorhänge blähte, wo es nichts gab, das nicht schon die
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