Doppelte Schuld
Tisch, auf dem eine Flasche Gin und ein Glas standen. Katalina mußte dem alten Mann helfen, das Glas zu halten. Den ersten Schluck hustete und spuckte er gleich wieder aus. Den zweiten schluckte er herunter. Einen dritten wollte er nicht mehr.
»Der Graf hat mir die Hand gegeben, Katalina«, sagte er nach einer Weile und lächelte wieder.
»Ja? Und was hat er gesagt?«
»Der Hengst … Fafnir …« Marten schloß die Augen.
»Er lebt nur noch in der Vergangenheit«, sagte Tenharden leise. »Das war seine große Zeit, als er Stallknecht im Schloß war. Und Fafnir hieß das Lieblingspferd des Grafen.«
»Die Kutsche.« Der alte Mann war kaum noch zu verstehen. Katalina hielt seine Hand und streichelte die papierdünne Haut, unter der die Adern pulsten. Er öffnete die Augen, jetzt wieder klar. »Ich muß die Kutsche fertig machen.«
Marten, der treue Knecht. Stallbursche bei Gregors Vater, Gero von Hartenfels zu Blanckenburg. Stallbursche noch heute, Knecht im wahrsten Sinn des Wortes. Schlechte Zähne, edle Seele. So einer war treu bis auf die Knochen, der Herrschaft ergeben, was auch immer geschah. Katalina verstand das nicht, aber es beeindruckte sie.
»Sie sind fort«, sagte Marten plötzlich und sah an ihr vorbei. »Alle sind fort. Alle gegangen.« Dem alten Mann standen die Tränen in den Augen.
»Bevor die Russen kamen.« Tenharden sah sie an, als ob er abschätzen wollte, was sie wußte vom Verlauf der Geschichte nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs. Das Übliche, hätte sie am liebsten gesagt. Für die einen bedeutete das Ende des Krieges die Freiheit und das Leben, für die anderen Flucht und Vertreibung. Altes Unrecht, neues Elend. So ist das nun mal.
»Blanckenburg wurde von den Amerikanern erobert, von den Briten besetzt und im Zuge der Neubestimmung der Besatzungszonen den Russen zugeschlagen. Die Familie von Hartenfels wurde von den Briten evakuiert.«
»Glück gehabt«, sagte sie. Sie kannte die Geschichte – es würde Tenharden überraschen, wenn er wüßte, wie gut sie die Geschichte kannte.
Martens Hand strich unruhig über die Bettdecke. Ihr Blick folgte den knotigen Fingern. Arthritis, stellte sie nüchtern fest. Ein Wunder, daß der alte Kerl noch hatte arbeiten können. Die Lippen des Alten bewegten sich, als wollten sie einen überraschenden Gedanken formen. Und tatsächlich hellte sich seine Miene auf.
»Ilsa!« Er strahlte Katalina an. »Meine Ilsa!«
Katalina drückte seine Hand, nickte und lächelte zurück.
»So schön«, murmelte Marten und schloß die Augen wieder.
Wie mit einem letzten Lidschlag öffnete sich seine Hand und fiel zur Seite. Katalina kannte den Moment, in dem ein Körper seine innere Spannung verliert und leicht und schwer zugleich wird. Die Seele erhebt sich und schwebt in den Himmel, haben sie es früher genannt.
Als sie aufsah, hatte Frank das Zimmer verlassen. War ihm entgangen, daß Marten gestorben war? Sie blickte hinab auf die schmale Gestalt im Bett, sah zu, wie Martens Augen stumpf wurden und seine Kinnlade sich senkte. Jetzt hörte sie wieder den Sturm, da draußen, und das Rauschen des Regens. Zeus regte sich zu ihren Füßen, er winselte, leise, als ob er nicht stören wollte.
Frank war zurück, fast hätte sie ihn nicht gehört, so schwerelos bewegte er sich, so leicht für einen Mann mit seiner Statur. Er ging neben ihr auf die Knie und legte die Fingerspitzen auf die Augenlider des Toten. »Das Paradies gibt es nur für Leute wie dich, alter Kerl«, sagte er zärtlich. Und dann tat er etwas Seltsames. Er nahm Martens linke Hand, öffnete sie, legte etwas hinein und schloß die Finger zur Faust. »Damit du den Fährmann bezahlen kannst. Aber erst wenn du auf der anderen Seite bist, hörst du?« Tenharden flüsterte jetzt, Tränen in der Stimme.
Katalina stand auf, um ihn eine Weile allein zu lassen. Zeus war sofort auf den Pfoten, schüttelte sich und versuchte ein vorsichtiges Schwanzwedeln, so, als ob er lieber mit ihr hinaus in den Sturm ginge als hier bliebe, bei diesem vertrauten Menschen da auf dem Bett, der sich plötzlich so fremd anfühlte.
»Ich denke, bei diesem Wetter sollte man ihn nicht abholen lassen«, hörte sie sich sagen.
»Ich halte die Totenwache«, sagte Tenharden. Dann stand er auf und nahm sie in den Arm. »Danke.«
»Er ist einfach eingeschlafen«, sagte sie. »Ohne Kampf. Glücklich.«
Er nickte und wandte sich ab. Die Träne hatte sie trotzdem gesehen.
Noch immer gab es kein Licht. Tenharden
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