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Doppelte Schuld

Titel: Doppelte Schuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Chaplet
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hatte ihr angeboten, sie zu fahren, aber sie machte sich mit Zeus zu Fuß auf den Weg. Es war unwahrscheinlich, daß die Zufahrt zum Schloßpark schon freigeräumt war. Außerdem hatten Sturm und Regen nachgelassen.
    Die Schwarzwälder Füchse streckten ihr die Hälse entgegen und schnaubten. Katalina tätschelte die nassen Tiere, die sich an das Unwetter gewöhnt zu haben schienen. Das Fohlen hatte sich bei seiner Mutter untergestellt und saugte. Tiere wissen, wie man sich tröstet, dachte Katalina. Mit Wärme und Nähe und Nahrung. Hoffentlich war die Milch im Kühlschrank noch genießbar, ein heißer Kakao und ein wärmender Bademantel wären jetzt genau das richtige.
    Der Weg an der Schloßmauer entlang hatte sich in einen Bach verwandelt. Der Regen hatte zwar nachgelassen, aber jetzt kam das Gewitter zurück, das sich vor einer halben Stunde noch verzogen zu haben schien. Unter berstendem Donner liefen Katalina und Zeus den Weg hinauf zum Schloßpark. Auf halber Strecke glitt sie aus und landete auf den Knien. Der scharfe Schmerz trieb ihr das Wasser in die Augen. Und dann überfiel sie eine maßlose Trauer, die sie vorwärtsstolpern ließ, blind vor Kummer und Tränen.
    Sie weinte nicht um Marten, höchstens ein bißchen. Der Alte war ja im Paradies, was es für Leute wie sie nicht gab. Ihr fehlte die Unschuld dafür, die Helligkeit, die Eindeutigkeit. Für sie gab es keine Erlösung.
    Sie weinte auch nicht um den Mann mit den kurzen harten Haaren in den Farben von Pfeffer und Salz, den Mann mit den roten zerklüfteten Fäusten, mit der Tätowierung auf dem Oberarm. Der Mann, der nach Schnaps stank, als er an jenem Tag über ihr stand und ihr mit seinen Stiefeln das Kind aus dem Leib trat.
    Sie weinte nicht um das Kind. Sie weinte nicht um ihren Vater. Vielleicht weinte sie um die Person, die seinen Verfolgern den entscheidenden Hinweis gegeben hatte. »Er wird in Mostar sein. Morgen. Am Nachmittag. Bei Stevo. Am Bulevar«, hatte die Stimme ins Telefon geflüstert.
    Erst als Zeus ihr die Schnauze in die Hand schob, merkte sie, daß sie stehengeblieben war. Der Hund winselte, er konnte ihr Schluchzen wahrscheinlich kaum ertragen. Sie wischte sich mit dem nassen Jackenärmel über Augen und Wangen und Nase. Endlich hatte sie sich soweit gefaßt, daß sie weitergehen konnte.
     
    Auch im Schloß brannte kein Licht. Die großen schmiedeeisernen Laternen schwangen im Wind. Am liebsten hätte sie nach Moritz gerufen, sich an ihn geschmiegt, sich trösten lassen. Aber es gab Dinge, die mußte man mit sich allein ausmachen.
    Der Sturm, der für einen Moment Ruhe gegeben hatte, als ob er den Menschen erlauben wollte, ihre Rollen zu Ende zu spielen, holte tief Luft und setzte erneut ein, mit einer Wucht, die ihr den Atem nahm. Vom Schloß her hörte man Glas splittern und dann einen dumpfen Schlag, der den Boden erzittern ließ. Katalina blickte zurück, hoch, zum Turm. In dem kurzen Moment, in dem ein Blitz die Szene ausleuchtete, bildete sie sich ein, der Turm habe geschwankt und sei im Begriff zusammenzustürzen. Beim nächsten Blitz sah sie, was geschehen war. Oben auf dem Turm klaffte eine Lücke, rechts fehlte eine der überlebensgroßen Skulpturen, die die Musen darstellten. Es hatte Calliope getroffen.
    Die Skulpturen standen seit über 300 Jahren dort oben, sie hatten den Siebenjährigen Krieg, die französischen Revolutionsheere und Napoleon überlebt, den Ersten Weltkrieg und die Novemberrevolution, die Nazis und den Zweiten Weltkrieg. Und die DDR. Katalina wehrte sich gegen die Weltuntergangsstimmung, die sich über sie senken wollte. Erst den Hund nach Hause bringen. Dann weitersehen.
    Als sie den Schlüssel in die Haustür steckte, ließ er sich nicht drehen. Sie bewegte die Klinke. Die Tür war offen. Du wirst alt, dachte sie. Dir entfallen die normalsten Dinge der Welt. Aber hatte sie wirklich vergessen abzuschließen? Sie erinnerte sich, wie die Tür zugeschlagen war, wie sie sich umgedreht, wie sie den Schlüssel ins Schloß gesteckt hatte. Egal, dachte sie, trat in den Flur und betätigte den Lichtschalter. Kein Strom, noch immer nicht.
    Zeus blieb stocksteif stehen, als er ihr in den Flur folgte, und prüfte die Luft. Sie griff nach ihm. Seine Nackenhaare hatten sich aufgestellt, er gab ein tiefes Grollen von sich.
    »Was ist los?« flüsterte sie. Der rollende Donner klang wie ein Artillerieangriff. Sie tastete sich vorwärts, sie stolperte über etwas Hartes, sie wäre fast gefallen. Und dann

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