Doppelte Schuld
Calliope, die Muse des epischen Gesangs. Ihre Wachstafel und ihr lorbeerbekränzter Kopf waren halbwegs intakt, sie lagen einige Meter entfernt. Der schwere Körper mit den wallenden Gewändern aber war aus mehr als zehn Metern auf den gepflasterten Schloßhof gefallen und in unzählig viele Stücke zersprungen. Gut, daß niemand unten gestanden hatte. Moritz berührte mit dem Fuß einen der grauen Steinbrocken. Ein Flügel war zu erkennen. Er mußte von dem Tier stammen, das Calliope zu Füßen gelegen hatte: ein Schwan.
Der Verlust eines unersetzlichen Originals von Eversmann tat weh. Er bezweifelte, daß sich die Scherben wieder zusammenfügen ließen. Aber insgesamt hielt sich der Schaden in Grenzen. Zwei Laternen, die den Schloßhof beleuchteten, hatte der Sturm aus den Halterungen gerissen, Schindeln waren vom Turm gefallen, und in die Kapelle hatte es hineingeregnet. Im Schloßpark waren eine alte Buche und ein Ahorn umgestürzt.
Schade um die Kapelle. Die Mauern waren im Laufe des Sommers fast trocken geworden. Moritz sah den alten Herrn von der Seite an. Gregor hatte recht. Bislang hatte nur er immer wieder auf die unbefriedigende finanzielle Situation hingewiesen und Lösungen gefordert – Denkmalschutz, Land, Stiftung, wo immer sich ein Geldgeber fand. Gut, wenn auch der Partner vernünftig wurde.
»Und was schlägst du vor?«
Gregor räusperte sich. »Alte Geschäftspartner mit Geld. Wollen vielleicht investieren.«
»Vielleicht?« Das klang eher vage. »Was sind das für alte Geschäftspartner?«
»Von früher eben.«
Moritz sah den Alten von der Seite an. Er hatte die Lippen zusammengepreßt und starrte trotzig vor sich hin. Irgend etwas stimmte da nicht. »Und die Gegenleistung?«
»Mußt du immer gleich so konkret werden?«
Moritz seufzte. Der Alte war ein Spieler, hatte Spaß am Risiko, etwas, das ihm selbst gründlich abging. Du hast eine Beamtenseele, dachte er. Und wenn Katalina nicht wäre, wärst du schon längst vertrocknet.
Katalina. Er hatte längst nach ihr sehen wollen, aber Gregor hielt ihn seit den frühen Morgenstunden auf Trab – und das nach einer Nacht, in der sie beide kein Auge zugetan hatten.
»Also. Wo ist der Haken?«
»Es wird dir nicht gefallen, was ich dir erzähle.« Gregor klang sauertöpfisch. »Alle haben es damals gemacht, niemand fand etwas dabei.«
Mach’s nicht so spannend, wollte Moritz sagen, als einer der Arbeiter »Vorsicht!« schrie. Er lief hinüber, um zu helfen, aber die Schubkarre mit Calliopes Überresten war bereits umgestürzt.
Als er zurückkam, stand ein Polizeiauto auf dem Schloßplatz. Ein Uniformierter lehnte aus dem Wagenfenster. »Haben Sie angerufen? Wegen des Einbruchs mit Sachbeschädigung?«
»Nein.« Er blickte zu Gregor hinüber, der ebenfalls den Kopf schüttelte.
Der Uniformierte schien bei seiner Kollegin nachzufragen. Dann steckte er wieder den Kopf aus dem Fenster. »Kennen Sie eine Frau Cavic? Sie soll hier wohnen.«
Moritz erschrak. Katalina. »Sie wohnt im Kutscherhaus. Ich zeige Ihnen den Weg.«
Er ließ Gregor stehen und lief neben dem Polizeiauto her. Er hätte sich schon heute nacht um Katalina kümmern sollen. »Ist ihr etwas passiert?«
Der Uniformierte beratschlagte wieder mit seiner Kollegin. »Davon war nicht die Rede«, sagte er dann.
Katalina stand vor dem Haus. Sie war blaß, aber sie wirkte unverletzt. Moritz war mit ein paar Schritten bei ihr und nahm sie in den Arm. Es dauerte eine Weile, bis ihre Spannung nachließ. »Sie haben Susi umgebracht«, flüsterte sie. Er umarmte sie fester.
Die Polizei brauchte nicht lange, um die Tatsachen zu Protokoll zu nehmen. Das Kutscherhaus war verwüstet, das war nicht zu übersehen. Die Einbrecher hatten das Schloß geknackt, kein Kunststück bei der alten Tür. Dann war man systematisch vorgegangen. Mit geringem Aufwand maximale Zerstörung erreichen – schwierig war das nicht.
Wieso später auch noch Köster und Sager am Tatort auftauchten, die beiden Kripobeamten, die Katalina in den letzten Wochen das Leben schwergemacht hatten, war unklar. Sie schienen weder am Einbruch noch an Katalina großes Interesse zu haben und schauten sich lediglich mit unverhohlener Faszination das geschlachtete Ferkel an. »Da fehlt ein Ohr«, sagte der Jüngere und zeigte mit dem Zeigefinger auf Susis rechte Seite.
Moritz hatte den Arm um Katalina gelegt und merkte, wie sie zitterte. Daß sie das Ferkel massakriert hatten, ließ erkennen, was die Einbrecher wirklich
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