Doppelte Schuld
doch, was solche Informationen wert sind.« Sie schnippte mit den Fingern. »Nichts.«
»Es existiert ein Vorgang …«
»Ich lese Zeitung. Ich weiß, wieviel Substanz hinter manchen der sogenannten Vorgänge steckt«, sagte sie spitz. »Wie oft ist schon jemand als IM verdächtigt worden, der sich als abgeschöpfte Quelle entpuppte?«
»Gnädige Frau, wie wäre es, wenn Sie mit uns kooperierten?« Der Ältere, Köster, hatte rote Augen. Chronische Bindehautentzündung oder zuviel Alkohol. Ein unangenehmer Kerl. »Ein Mann ist tot. Sie waren zur Tatzeit in der Nähe, und nun stellt sich heraus, daß Sie beide der gleichen Verbrecherbande angehörten.«
»Das ist eine Unterstellung. Kommen Sie mir nicht mit der Stasikeule!« Mary hätte die Worte am liebsten zurückgenommen, als sie Köster lächeln sah. Sie war zu scharf geworden. So sprach kein altes Muttchen.
»Die Wahrheit sagen solche Leute nie, oder?« Jens Sager murmelte in sich hinein, als ob er niemand Bestimmtes meinte. Er skizzierte wieder. Wahrscheinlich eine vielarmige Krake.
»Kannten Sie Benjamin Dimitroff?« Köster sah sie lauernd an. Mary beugte sich zu Lux hinunter und versuchte, sich zu konzentrieren. Wenn sie nur wüßte, was die beiden wußten. Woher sie es wußten, war ziemlich klar.
Als sie wieder aufsah, blickte sie in Kösters feistes Gesicht. »Nein, woher denn?« fragte sie mit wiedergewonnener Unschuld.
»Aus alten Zeiten, Frau Nowak. Aus alten Zeiten.« Köster grinste.
Mary lehnte sich zurück. Er wußte nichts, noch nicht einmal ihren alten Namen. Entwarnung: Die beiden bewegten lediglich heiße Luft.
»Ich habe einen britischen Paß«, sagte sie und setzte ihr lieblichstes Lächeln auf. »Nicht, daß ich glaube, es könnte zu diplomatischen Verwicklungen kommen, aber eine britische Staatsbürgerin bei der Stasi? Glauben Sie das wirklich?«
»Ein Paß sagt nichts über den wahren Menschen aus«, sagte Jens Sager sanft und hielt den Notizblock ein wenig von sich fort, so, als ob er das Kunstwerk überprüfen wollte.
»Kommen Ihre hübschen Zeichnungen eigentlich auch zu den Akten, Herr Kriminaloberkommissar?« Sie lächelte mild. Die beiden Männer sahen sich an. Und dann verabschiedeten sie sich.
Mary blieb sitzen, die Hand auf Lux’ seidigem Kopf. Der Gegner war am Ball. Und sie glaubte zu wissen, wer es war, der ihr die Bälle zuspielte. »Sehr ehrgeizig. Keine erkennbaren Laster. Jähzornig«, hatte sie damals über ihn geschrieben. Damals, nachdem Henrys Plan aufgegangen war.
Henrys Plan. 1951 war es soweit.
»British Berliner« hieß der Zug. Es war April, und es war stürmisch draußen, und sie konnte es nicht erwarten. Sie saß mit Henry im Militärzug der Britischen Militärmission Brixmis, der von Braunschweig nach Charlottenburg fuhr. Die Türen waren von außen mit Ketten gesichert, und im Restaurantwagen servierte man das Abendessen mit Wein. Henry wirkte bedrückt, aber sie war euphorisch. Es ging nach Osten, in ein Abenteuer, eines, das wichtig war für die Sache, weshalb man ohne Bedenken das Kind zurücklassen konnte, das einmal stolz auf seine Mutter sein sollte.
Die Sache! Was für eine Schimäre, der sich die Menschen immer wieder unterwarfen. Auch sie hatte geglaubt, es gebe etwas Größeres als das hundsgewöhnliche menschliche Schicksal. Der Kampf um die Freiheit. Um die westlichen Werte. Gegen die stalinistische Zwangsherrschaft.
Die Gegenseite benutzte die gleichen großen Worte. Man sprach von der historischen Mission, dem notwendigen Sieg des Sozialismus, dem Paradies auf Erden. Aber die große Sache war immer so klein wie die Menschen, die ihr dienten.
1951 wußte sie noch nichts von ihrer Rolle in der Weltgeschichte. Sie wußte noch nichts von der Erbärmlichkeit ihrer Mission.
Nicolai Ivanov. Der Kontakt kam schon nach zwei Monaten zustande. Ein paar Jahre später wäre alles nicht mehr so einfach gewesen, man hätte sie ausgeforscht, durchleuchtet, verhört. Aber in diesen Jahren der relativen Unschuld ging Henrys Plan auf: Eine Dolmetscherin, die bei Brixmis in Potsdam arbeitete, entdeckte ihr Herz für den Sozialismus und wechselte die Seiten – das war die angestrebte Legende, und sie wurde in der DDR mit Kußhand aufgenommen. Hier war doch der Beweis, daß der Kapitalismus bei der westdeutschen Bevölkerung nicht mehr ankam! Der Anwerbungsversuch der Russen ließ nicht lange auf sich warten, und sie ließ sich nicht lange überreden. Wer den Sozialismus liebte, mußte wachsam
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