Doppelte Schuld
und Kaffee, der nach nichts schmeckte. Und nach der Arbeit wieder lange Nächte, mal in der Ackerstraße, mal bei den Genossen in der Lettestraße, man rauchte zuviel und trank noch mehr und redete sich um Kopf und Kragen.
Hans. Mit den dicken Brillengläsern im dunklen Gestell und den viel zu langen Haaren und der Pfeife. Hans wußte, wie ein richtiger Sozialismus auszusehen hatte. Nicht so wie der in der DDR. Nicht wie der in der Sowjetunion. »Zuckererbsen für jedermann« – sie hatte seine hohe, etwas heisere Stimme noch immer im Ohr, auch die Art, wie er manche Vokale dehnte. Ein Leben ohne Geld und Gut und dennoch ohne Neid und Mangel. Jede Alternative zum Bestehenden war recht, fand Marie, vor allem dann, wenn sie Hunger hatte. Nur an Alkohol schien kein Mangel zu herrschen im Arbeiter- und Bauernparadies.
Marie war selten betrunken. Aber ihre Berichte schrieb sie selten nüchtern. Und manchmal war sie zu müde für die Briefe nach Hause, die irgendwann nicht mehr beantwortet wurden.
Seine Briefe. Sie endeten immer mit: »Wann kommst du zurück? Dein Sohn.« Es waren Bilder dabei, unbeholfene Buntstiftzeichnungen von Zicky, der Ziege, und Ajax, dem Hund. Und von Bully, dem alten Lanz. Die Zeichnungen legte sie sich nachts unters Kissen, ganz gegen die Vorschrift. Aber irgendwann ging es nicht anders: Sie verbrannte die Briefe in einem Kochtopf. Mit dem Kochlöffel zerstieß sie die Asche zu Pulver und spülte sie ins Klo.
»Opa hat mir ein Fahrrad gekauft«, schrieb der Kleine.
Sie dachte jeden Tag an ihn. Sie vergaß ihn immer öfter. Beides quälte sie unendlich.
Paul Grunau begann, in ihrer Gegenwart Kritik an der Linie der Partei zu üben. Henry interessierte sich für Hans und seine Freunde. Und Moskau interessierte sich für Paul Grunau. Sie versorgte London mit Berichten über die wachsende Opposition – Henry setzte auf das baldige Ende der DDR. Mit Paul ging sie wie gehabt ins Bett und verriet ihn ebenso routiniert an Nicolai Ivanov. Nicolais Amt hieß jetzt KGB.
Sie belog die Stasi. Sie begann eine Affäre mit Hans. Und sie ging mit Martin Axt ins Bett: »Sehr ehrgeizig. Keine erkennbaren Laster. Jähzornig.«
Kälte und Angst im Winter 1956. Die ungarische Revolution zerschlagen, Ulbrichts Gegner im Gefängnis. Hans fehlte bei den Treffen in der Lettestraße, und über die Ackerstraße redete niemand mehr. Jeder mißtraute jedem. Niemand wußte, wer noch Macht hatte und wer schon in Ungnade gefallen war.
Der Witz. Es gab viele davon, aber der knappste ging so: »Was ist am schwersten am Kommunismus vorherzusehen? Seine Vergangenheit.«
Es war Zeit, das Land zu verlassen.
»Bleib, ich bitte dich«, schrieb Henry ihr zwei Wochen später. »So eine Chance kriegen wir nie wieder. Und du wirst sehen: Die AntiStalinisten setzen sich auch in der SED durch.« Er lag falsch, wie immer.
Abgesang. In der DDR hatten nicht die Reformer, sondern Walter Ulbricht gesiegt. Und Martin Axt schrieb ihr keine Liebesbriefe mehr. Er bat sie nicht mehr, zu ihm zurückzukommen. Er lächelte nicht mehr, wenn er sie sah.
Axt war auf der richtigen Seite.
Man nannte ihn die Katze. Er war der Geschmeidigste von allen.
4
Die Scherben waren weggeräumt. Über den Schloßhof stolzierte ein Rudel Pfauen, die Moritz nicht ausstehen konnte, während Gregor sie für unverzichtbar hielt. »Weil es dazugehört«, pflegte der Alte zu behaupten.
»Sind wir wenigstens versichert?« Gregor stützte sich auf den Stock, er schien wieder einen Gichtanfall zu haben, das erklärte seine schlechte Laune.
»Gegen Sturmschäden? Natürlich.«
»Und wann zahlen die?«
»Du weißt doch«, sagte Moritz beschwichtigend. »Das dauert.«
»Alles Halunken«, brummte der Alte.
»Und was ist mit deinem Geschäftspartner?« fragte Moritz.
»Du weißt doch. So was dauert.« Der Alte grinste. Immerhin. Moritz grinste zurück.
Die Luft war noch immer kühl, aber die Wolkendecke wurde langsam durchsichtig. Der Tag war noch nicht vorbei, aber er spürte seine Knochen. Katalina auf den Schloßhof kommen zu sehen war wie eine Erlösung.
»Na, dann wünsche ich noch eine schöne Zeit«, brummte der Alte und klopfte ihr auf die Schulter, höchster Beweis seiner Zuneigung. Dann humpelte er über das Kopfsteinpflaster zu seiner Wohnung im Turmflügel.
»Danke«, sagte Katalina leise und hakte sich bei Moritz unter.
Kein Problem, dachte er. Für dich tu ich fast alles. »War der Rest des Tages wenigstens erträglich?«
»Routine. Nichts
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