Doppelte Schuld
etwas kaute, und hob den Kopf. »Sie und unsere Ordnungshüter.« Er lächelte, ein Anblick, bei dem Mary sich sein Desinteresse zurückwünschte. Sie verabschiedete sich höflich und verließ das Hotel Richtung Stadt.
1955. Der Tunnel. Eines Tages im April wurde die Chausseestraße aufgerissen. Erst gab es nur Gerüchte, aber die Sache blieb nicht lange geheim: Unter der Straße fand man eine 450 Meter lange Röhre, die von Westberlin nach Ostberlin führte, vollgestopft mit modernster Abhörtechnik. Ein Triumph für die DDR und für die Sowjetunion: Der britische und der amerikanische Geheimdienst hatten den kommunistischen Gegner aushorchen wollen, aber man war den Verbrechern auf die Schliche gekommen!
Henry ließ wochenlang nichts von sich hören. Nicolai Ivanov lächelte geheimnisvoll.
Wahrscheinlich hatten die Westalliierten nie etwas wirklich Interessantes erfahren. 1961 stellte sich heraus, daß der KGB von Anfang an Bescheid gewußt hatte – der britische Topspion George Blake hatte die sechs Millionen Dollar teure Abhöraktion verraten.
Kinderspiele, hatte Marie gedacht, die niemandem etwas bringen. Für sie änderte sich nichts.
Schmidts Hotel. Das Sofa in der Lobby. Man sank tief ein, wenn man sich setzte, und konnte ohne Hilfe kaum wieder aufstehen. Major Paul Grunau reichte ihr die Hand, bevor sie zum Essen gingen. Und später ins Bett.
Sommer in Brandenburg. Ein Bauernhaus, es gehörte Freunden. »Hat man dir das im Westen beigebracht?« Paul, im Bett, eine Zigarette in der Hand, in der anderen schwenkte er ein Glas Sekt, der längst warm geworden war.
»Sei nicht frivol, Genosse.« Marie vor dem Spiegel. Sein Geschenk schmeichelte ihr. Der BH war ein wenig zu groß, das Höschen eher zu klein.
Paul lächelte, während er ihr zusah. Er war kein Idiot. Und er wußte, auf wen er sich eingelassen hatte.
Draußen die Nachtigallen und die Frösche am Teich. Drinnen war es viel zu warm. Aber sie hatten die Fenster fest verschlossen und die Vorhänge vorgezogen. Die Partei war überall.
Major Paul Grunau warb sie für das Ministerium für Staatssicherheit an. HA VIII , Beobachtung und Ermittlung. Henry war begeistert.
Und dann kam der XX . Parteitag. 1956. Abkehr vom Stalinismus. Tauwetter in der Sowjetunion. Henrys Direktiven wurden hektisch. Sie trafen sich in Westberlin in einem schäbigen Hotel.
»Sieh zu, daß du auf der richtigen Seite bist, wenn aufgeräumt wird.« Mager war er geworden. Und er trug einen Ring an der linken Hand.
»Was ist die richtige Seite?« Wie gut er aussah. Wie schmal seine Hände waren. Wie dunkel seine Augen.
»Der neue Mann im Kreml, dieser Chruschtschow, wird einen neuen Kurs verordnen. Alle werden hoffen und beten, die richtigen Freunde zu kennen und aufs richtige Pferd gesetzt zu haben.«
»Und auf welches setzt du?«
»Der Neue wird sich durchsetzen. Aber sie werden einen Putsch versuchen.« Er lächelte nicht. Er hatte das Lächeln verlernt. Vielleicht lächelte er eine andere an? »Ich will alles wissen, hörst du?«
Auch Paul Grunau wollte alles wissen.
Ettore begrüßte Mary mit breitem Lächeln. Heute saß niemand auf den weißen Stühlchen im kleinen Hof unter den Linden, es war kühl geworden. Drinnen saß ein einsamer Gast, den Oberkörper hinter einer Zeitung versteckt. Sie sah nicht hin. Es war unwahrscheinlich, daß der Mann auf sie gewartet hatte. Und wenn, war es ihr auch egal. Die Katze war aus dem Sack, im wahrsten Sinne des Wortes. Der nächste Schachzug mußte von ihr kommen.
Es sei denn, du gehst, sagte die vertraute Stimme. Es sei denn, du läßt dich auf nichts ein. Es sei denn, du spielst nicht mit.
Aber dafür war es zu spät. Benjamin Dimitroff, der unauffällige, treue Benny, war tot, der Gegner wußte, wo sie war, und würde sie nicht mehr gehen lassen.
Standhalten, nicht flüchten, verordnete sie sich und leerte das Glas Wasser in einem Zug, das Ettore ihr zusammen mit dem Kaffee gebracht hatte. In den Tortellini stocherte sie lustlos herum. Es war eine Illusion gewesen, nach Blanckenburg und zu Gregor zurückkehren zu können. Es gab keinen Neuanfang, höchstens eine Quittung. Sie war am Ende des Wegs angelangt, den sie 1951 eingeschlagen hatte, und ob es nach dem Unvermeidlichen noch ein Encore gab, war nicht vorherzusehen.
Time will tell.
Sommer 1956. Wieder einer dieser Büroräume, die nach Zigaretten und Schweiß und Butterbroten und Papier rochen. Wieder Schreibmaschinen und Bleistifte und Radiergummi
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