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Doppelte Schuld

Titel: Doppelte Schuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Chaplet
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sein. Sie schenkte ihre Augen und ihre Ohren Nicolai Ivanov, Oberstleutnant in Karlshorst, bei der SMAD, der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland.
    Bei der ersten Begegnung mit Ivanov hatte sie an Fedor gedacht, er erinnerte sie an ihn – er war nicht ungebildet, er sah gut aus, er hatte Manieren. Sie verstand erst nicht, was er von ihr wollte. Dabei war alles so verdammt einfach.
    Nicolai und das Moskauer Ministerium für Staatssicherheit, das MGB, wollten das gleiche wissen, was Henry und den Secret Intelligence Service in London interessierten: alles über die Machtkämpfe in den Führungszirkeln der DDR. Alles über die kleinen und großen Laster der Funktionärskaste. Alles, was man irgendwann einmal gegen sie verwenden konnte, womit man sie bestechen, erpressen, verängstigen, ausnutzen konnte. »Weiß man, wozu es gut ist?« pflegte Nicolai zu sagen, wenn sie sich darüber beschwerte, daß er ihr Informationen über die bevorzugte Zigarettenmarke eines nicht weiter wichtigen Genossen abverlangte.
    Die Dossiers. Nicolai liebte es kurz und präzise. »Ist der Genosse zuverlässig? Linientreu? Irgendwelche Abweichungen? Hat er Hobbys, Vorlieben, kostspielige Neigungen? Sexuelle Perversionen?« Sie kannte die Checkliste. Es galt, die Punkte zu finden, an denen man den Hebel ansetzen konnte, wenn man den Genossen gefügig machen wollte. Oder wenn er verzichtbar schien. Alles war wichtig, alles, was eine Person ausmachte. »Nichts ist privat.« Das war die Regel Nummer eins.
    Sie schlief zwar nur mit den Männern, die noch ihre Haare hatten. Aber sie redeten alle, auch ohne Sex. Keiner war zu fortgeschrittener Stunde mit fortgeschrittenem Alkoholkonsum noch ein linientreuer Parteisoldat. Nur die Dümmsten glaubten an das, was sie dem Volk verordneten.
    Ein Jahr später. Das stete Stakkato, mit dem die Tropfen aus der kaputten Regenrinne auf den Fenstersims prallten. Stalin lesen. Die Geschichte der KPdSU, die Seiten wellten sich schon. Es regnete immer.
    Ein Waldgelände in Klein-Machnow, langgestreckte Bungalows, Villen und ein Schlößchen, umzäunt und bewacht. Die Parteihochschule. Lernen im Kollektiv, Geschichte und Theorie und vor allem die richtige Linie. Nachts traf man sich auf einem der Zweibettzimmer und träumte von einem Sozialismus ohne Geld und ohne Mangel. Marie gab weiter, was die Genossen sonst noch sagten, und begann, sich für den Marxismus-Leninismus zu erwärmen.
    Die Bücher. Die »Kurzen Lehrgänge«. Die Direktiven. Alles auf einem grobkörnigen Papier gedruckt, ein Gefühl unter den Fingerspitzen, das sie nie vergessen würde. Auch nicht den Geruch: Im Haus stank es nach dem alles durchdringenden Reinigungsmittel Lysol, und draußen wurde man von dem Gestank von Braunkohle eingenebelt, die im Heizungskeller verfeuert wurde.
    Die Floskeln, die Phrasen, die Merksätze. Sie erwies sich als gelehrig, sie entdeckte eine ungeahnte Freude an den Ableitungen und Herleitungen und dialektischen Schlüssen. Es war ein Spiel, ein Kinderspiel. Bis sie erlebte, wie ein stammelnder, schweißüberströmter Genosse Selbstkritik übte, weil er in die Phrasen einen eigenen Gedanken eingeschmuggelt hatte.
    Und wieder ein Jahr später. Der Frühling ließ auf sich warten. Dann starb Stalin. Sie sah gestandene Genossen weinen, in völlig nüchternem Zustand. Die anderen wagten nicht zu jubeln. Aber das Eis war dünn geworden. Der 17. Juni brach es auf. 1953.
    Tausende von Menschen in der grauen Stadt. Demonstrationszüge in der Stalinallee und vor dem Brandenburger Tor. Russische Infanterie und Panzer. Menschen, die zu laufen beginnen. Schreie, Schüsse. Besorgte Kommentare im Westrundfunk. Am Abend ist alles vorbei.
    Das war der Tag, an dem sie gehen wollte. Aber Nicolai Ivanov brauchte sie mehr denn je. Die harte Linie Ulbrichts beendete alle Bestrebungen seiner von den Russen unterstützten Widersacher, ihn zu entmachten. Nicolai verlor seine wichtigsten Leute.
    »Das ist die Stunde der Frauen«, hatte er gesagt und gelächelt wie der Bär vor der Bienenwabe.
    »Es wird nicht mehr lange dauern«, behauptete Henry bei einem Treffen im Spätsommer im Tiergarten. Er hatte sich geirrt. Er irrte sich immer.
    So what.
     
    Marys Magen knurrte vernehmlich. Lux wurde unruhig. Draußen versuchte die Sonne, die trübe Wolkensuppe zu durchdringen. Sie erhob sich aus dem Sessel, leinte den Hund an und ging hinaus zur Rezeption.
    »Sie sind ja dicke Freunde geworden«, sagte Carlo, der wie immer auf irgend

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