Doppelte Schuld
leuchtendrotem Haar. Ein Greis, der sich auf seinen Rollator stützte. Noch bist du nicht soweit, dachte sie in einem Anfall von Dankbarkeit. Noch brauchst du nur Voltaren für die Schulter, Aspirin und eine neue Zahnbürste. Noch hältst du bei der achtfachen eleganten Übungsreihe des Taiji die Balance.
»Die alten Bäume oben im Park – also das ist doch lebensgefährlich!« Das war die Mutter mit dem Kind.
»Das halbe Schloß ist eingestürzt«, sagte der Apotheker vorwurfsvoll, ein seltsames Männchen mit viel zu langem weißen Haar.
»Und das, wo der Graf pleite ist! Das kann ja nichts werden da oben!« Ein Mann mit dem traurigen Gesicht einer geschnitzten Figur schüttelte den Kopf, gebeugt von den Sorgen anderer Leute.
»Was für ein Unsinn«, sagte die große rothaarige Frau vor ihr. »Eine der Skulpturen von Eversmann ist heruntergestürzt, das ist schlimm genug. Aber das Schloß steht noch, wie jeder sehen kann.«
Der Apotheker wiegte zweifelnd das Haupt.
»Und was die finanzielle Lage des Grafen betrifft …«
»In Heimburg ist die Marktstraße blockiert, der Sturm hat das Rathaus abgedeckt.« Der Mann mit dem Rollator.
»Und in Cattenstedt …«
Alle redeten durcheinander, als ob jedes bißchen Katastrophe gefeiert werden müßte, immerhin war endlich mal etwas passiert. Mary hätte gerne mehr gewußt über die finanzielle Lage des Grafen. Aber das allgemeine Gerede interessierte sie nicht. Mit einem freundlichen Nicken in die Runde verließ sie den Laden.
Jeder in Blanckenburg wußte offenbar, daß Gregor Geld brauchte. Das wäre eine Erklärung für vieles, was ihr noch unklar war, wenn auch keine sehr sympathische. Gregor hatte sie gerufen – mit dem Zauberwort, das allein er und sie kannten. Sie folgte dem Ruf – und Blanckenburg empfing sie mit alten Bekannten aus finsteren Zeiten. Was hatten diese Gestalten mit Gregor zu tun? Hatte er seine alte Liebe angelockt, um sie dem Gegner auszuliefern?
Der Gedanke war unerwartet schmerzhaft. Würde er so etwas tun? fragte eine zaghafte Stimme in ihrem Inneren. Yessir , antwortete ihr Common sense. Für Geld tun Menschen alles.
Lux blieb stehen. Mary wäre fast weitergelaufen. Sie waren vor der Buchhandlung Höfer angelangt. Die schwere geschnitzte Tür war frisch gestrichen, aber ansonsten sah alles aus wie früher, selbst das Fenster aus geätztem Glas gab es noch. Sie waren damals oft hiergewesen, Gregor, Folkert und sie, und hatten in Büchern geblättert, die sie sich nicht leisten konnten.
Gregor konnte sie nicht verraten haben. Es paßte nicht zu ihm. Und außerdem – Zwietracht säen gehört zum Geschäft. Die Stasi nannte es »Zersetzen«. Auch darin war die Katze ein Meister gewesen.
Mary öffnete die Tür. Selbst das Glockenspiel war noch dasselbe. Nur der Inhaber dürfte gewechselt haben, und es roch anders als früher. Nicht mehr nach Staub und alten ledernen Einbänden, auch nicht nach dem sauren Geruch, den das Papier in der DDR verströmte, sogar das der blauen Marx-Engels-Bände, deren kunstlederner Einband sich immer etwas schwitzig angefühlt hatte. Es gab überhaupt nicht mehr viele Bücher in der Buchhandlung, außer Reiseführern und Lokalgeschichtlichem. Letzteres war für die Touristen gedacht, ersteres sicher für die fernwehkranken Blanckenburger, für all diejenigen, die den Anblick ihres Städtchens nicht mehr ertrugen, das seine jungen Menschen verlor wie so viele Orte in der ehemaligen DDR.
Auf dem Tisch lag ein Bildband über das Schloß – vorgestern, gestern und heute. Sie blätterte ihn auf. Auf einem Stich aus dem 19. Jahrhundert sah Blanckenburg wie die Verheißung des Paradieses aus. Wie ein Luftschloß, in dem Dornröschen dem Prinzen entgegenschlummert. Dann die Bilder der Zerstörung. Der neugotische Saal – verwüstet. Ebenso der Saal mit dem großen Billardtisch. Gregors älterer Bruder Folkert hatte versucht, ihr das Spiel beizubringen. Sie war hoffnungslos unbegabt gewesen. Sie blätterte weiter und hielt den Atem an.
Warum tust du dir das an? dachte sie. Schau weg. Aber sie sah dennoch hin. Die prächtigen Kachelöfen, eine Sammlung, auf die man seit Generationen stolz gewesen war im Schloß, waren geraubt, demontiert oder zerschlagen worden. Sie legte das Buch zurück.
Mary sagte sich zum wiederholten Mal, daß der Traum nicht existierte, den sie wieder zu träumen begonnen hatte. Das Schloß war nur noch eine Hülle, in der ein alter Mann hauste, der sich erst in dem Moment wieder an seine
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