Doppelte Schuld
Jugend erinnerte, als sie Geschichte geworden war.
»Aber natürlich«, hörte sie den jungen Mann hinter der Kasse sagen, der sie vorhin kaum eines Blickes gewürdigt hatte. Der Aushilfsbuchhändler, nahm sie an. »Selbstverständlich. Das mache ich doch gern.«
Der Mann, auch so ein Fall von »Ich bin hier nur die Vertretung«, klang unsicher, und der Herr, der ihm antwortete, wirkte autoritär. Mary drehte sich um. Ein älterer Mann, aufrechte Haltung, weißes Haar, prominente Nase, die Hand auf dem Knauf eines Stocks, der wie eine Antiquität aussah.
»Kann ich morgen damit rechnen?«
»Ich versuche es, Herr von Hartenfels. Versprechen kann ich nichts.«
Sie mußte ein Geräusch von sich gegeben haben, denn Gregor Graf von Hartenfels drehte sich um, sah sie mit gerunzelter Stirn an, wollte etwas sagen und sank zu Boden.
Hinterher wußte sie nicht mehr, ob sie wirklich gelacht und »Du mußt doch vor mir nicht auf die Knie gehen, Gregor« gesagt hatte. Aber gedacht hatte sie es.
Der Aushilfsbuchhändler blieb wie angewurzelt hinter dem Kassentisch stehen und rief: »Um Himmelswillen!«, während Mary sich neben Gregor hockte und versuchte, ihn in die stabile Seitenlage zu bringen. Als es ihr endlich gelungen war, natürlich ohne die Hilfe des jungen Mannes, beugte sie seinen Kopf nach hinten und drehte sein Gesicht nach unten.
»Den Notarzt!« rief sie dem Buchhändler zu, der Anstalten machte, theatralisch die Hände zu ringen. Sie legte Gregor ihre Jacke um die Schulter, lauschte seinen Atemzügen und sah ihn vor sich, auf den Knien, vor fast 70 Jahren: Er hatte um ihre Hand angehalten, als sei sie das Kostbarste auf der Welt.
»Einen Notarzt. Natürlich.« Der junge Mann suchte den Telefonhörer und ließ ihn fallen, als er ihn gefunden hatte.
Mary massierte Gregors Hände und strich ihm die Haare aus der Stirn. Kein kalter Schweiß. Das war ein gutes Zeichen.
»Hallo? Hallo?« Der Mann hinter der Kasse schien sich verwählt zu haben.
»112!« rief Mary. Das konnte doch nicht so schwierig sein.
»Einen Krankenwagen bitte«, hörte sie die nervöse Stimme endlich sagen. »Es ist der Herr Graf. Hoffentlich nichts Schlimmes.«
Gregor in kurzen Hosen, im Sommer, im Park. Gregor im Abendanzug bei einem Fest auf dem Schloß. Gregor in Uniform.
Der Buchhändler sah aus, als ob er von einem Bein aufs andere träte. »Ist er – ich meine, ist alles soweit in Ordnung?« Seine Stimme rutschte bei jedem Wort höher.
Gregor bei der Verlobung. Gregor bei der Nachricht von der Verhaftung Folkerts. Gregor beim Abschied im Herbst 1943.
»Brauchen Sie etwas? Wasser?«
Der junge Mann hatte sich endlich aus seinem Kral hinter der Kasse hervorgewagt und spähte durchs Ladenfenster hinaus auf die Straße. Mary glaubte, ein Martinshorn zu hören. Gregor atmete ruhig und gleichmäßig, aber er brauchte einen Arzt. Man fällt nicht einfach so in Ohnmacht. Noch nicht einmal bei meinem Anblick, dachte Mary.
Oder – kam so der Tod? Und wäre das, bedenkt man die Alternativen, womöglich ein Glücksfall?
»Da sind sie!« Der Buchhändler riß die Tür auf, zwei Männer in orangeroten Westen mit einer Trage stürmten herein, dahinter ein Mann mit Koffer. Mary stand auf, nicht ganz so gelenkig wie sonst.
Der Notarzt prüfte Gregors Puls, ein Helfer befestigte Elektroden auf seiner Brust. »Der Kreislauf ist runter«, murmelte der Arzt. Mary wandte sich ab. Gregor würde nicht wollen, daß sie ihn so sah.
Einer der Sanitäter hielt eine Plastiktüte mit einer klaren Flüssigkeit hoch, während der andere die Trage zum Krankenwagen schob. »Sind Sie …?« fragte der Arzt und sah Mary stirnrunzelnd an. Sie schüttelte den Kopf.
»Es ist der Graf von Hartenfels.« Der Buchhändler ließ sich vernehmen, jetzt wieder ganz eifrig. »Er wollte Bücher abholen, und da …«
»Benachrichtigen Sie seine Angehörigen?« Der Notarzt sah den jungen Mann skeptisch an, als ob er ihm selbst das nicht zutraute. Der nickte unsicher.
Mary sah zu, wie die Sanitäter die Trage in das Auto hoben. Mach’s gut, Gregor, dachte sie. Und komm bald zurück. Wir haben uns viel zu erzählen.
Der Notarzt war gegangen. Die Türen des Krankenwagens klappten zu. Und dann sah sie es, draußen, im blassen Sonnenlicht, das Gesicht.
Der Mann stand halb verdeckt hinter dem Krankenwagen. Älter geworden, aber unverkennbar. Martin Axt. Die Katze. Er schien ihr spöttisch zuzulächeln. Dann verschwand er hinter den Menschen, die draußen auf der
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