Doppelte Schuld
Straße standen und neugierig guckten.
»Der Graf kommt regelmäßig. Er war doch noch so rüstig.« Der junge Buchhändler schüttelte den Kopf und schien das aufregende Ereignis mit ihr besprechen zu wollen. Mary ging wortlos an ihm vorbei zum Ausgang und ließ die Tür hinter sich zufallen.
Die Begegnung mit Gregor war weiß Gott anders verlaufen, als sie es sich ausgemalt hatte. Die Vorstellung, es könnte die letzte gewesen sein, erschreckte sie zutiefst. Gregor war ihr ungelebtes Leben, all das, was hätte sein können, wenn … Wenn sie einander wiederbegegnet wären nach dem Krieg. Wenn sie das Leben gelebt hätte, das sie immer hatte leben wollen – ohne Ideologien und »die Sache«, ohne Intrigen und Machtkämpfe.
Ohne Henry, dem sie die schlimmsten und die schönsten Jahre ihres Lebens verdankte.
Ohne Paul Grunau, der ihr das alles eingebrockt hatte.
Ohne Martin Axt, der noch eine Rechnung offen hatte.
Vol de Nuit . Es war ein Parfüm, wie geschaffen für Männer wie Henry, die nicht wußten, was sie Frauen schenken sollten: Das Parfüm hieß »Nachtflug« nach dem Roman von Antoine de Saint-Exupéry, dem berühmten französischen Flieger, und der Flakon im späten Jugendstildesign zeigte einen Propeller, der langsam zum Stillstand kam.
Das Parfüm. Ihr Parfüm. Henrys Parfüm.
Henry hatte es ihr strahlend überreicht, als wolle er sie belohnen für eine gute Tat. Dabei hatte sie nur das Gewohnte getan – Menschen denunziert, gegen die sie nur eines einwenden konnte: daß sie es umgekehrt genauso machten.
Aber seit einiger Zeit hatte sie Henry nicht mehr nur von Klatsch und Intrigen, von Revolutionsträumen und Umsturzwünschen erzählt, sondern auch vom Verschwinden der Menschen. Das hatte ihn elektrisiert.
Der Mann, der täglich den Hof fegte und dabei fröhlich pfiff. Irgendwann fiel ihr auf, daß sie ihn schon lange nicht mehr gehört hatte. Die Verkäuferin im Konsum, die ihr manchmal etwas zurückgelegt hatte. Plötzlich war sie nicht mehr da, und als Mary nach ihr fragte, taten ihre Kollegen, als ob sie die Frage nicht gehört hätten. Der Mann aus der Autowerkstatt, der Sohn einer Kollegin, das Ehepaar in der Wohnung über ihr. Es wurden immer mehr. Henry hatte ihre Stichprobe hochgerechnet und beschlossen, daß das Regime am Ende war.
Henrys leuchtende Augen. »Dem Ziegenbart laufen die Leute weg«, hatte er geflüstert. »Es ist bald vorbei.« Er lag falsch, wie immer.
Ein Gerücht machte die Runde. Die SED wolle eine Mauer bauen, hieß es. Mitten durch Berlin. »Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten«, sagte der Staatsratsvorsitzende Walter Ulbricht.
Am 12. August feierte man im DDR-Fernsehen den millionsten Fernseher, der in der DDR hergestellt worden war. Am 13. August begannen Bautrupps unter dem Schutz der Volkspolizei mit dem Bau der Mauer.
Die Mauer. »Man kann ein Volk nicht einsperren.« Es war Paul Grunau, der das flüsterte, als sie sich zwei Tage danach trafen, zum vorerst letzten Mal für viele Monate. »Ulbricht ist ein Idiot«, sagte Nicolai Ivanov eine Woche später.
Marie hatte den Kopf geschüttelt. »Man kann. Das geht bis ans Ende unserer Tage so weiter.«
Es war wie scheintot sein. Seit dem 13. August 1961 nahm sie die Welt nur noch wie ein fernes Echo wahr.
Die weiße Flotte. Im Sommer 1962 retteten sich dreizehn Menschen auf dem Ausflugsdampfer Friedrich Wolf in den Westen. Andere gelangten mit einem Schlauchboot über die Elbe. Im Kofferraum eines Autos über die Transitstrecke. Mit einem Heißluftballon. Durch selbstgegrabene Tunnel. Man hörte und las davon in der Hauptstadt der DDR und nickte mit dem Kopf, wenn jemand »Republikflucht!« sagte oder »Volksverräter!« oder »Alle erschießen!«.
Scheintot. Sieben Jahre in einem Schneewittchensarg. Marie fügte sich ein in die graue Landschaft des Mißtrauens und des Verrats. Sie hatte keine Freunde und keinen Auftrag mehr, seit Paul Grunau kaltgestellt worden und Nicolai Ivanov unter ungeklärten Umständen verunglückt war. Und Henry? Er hatte geheiratet, drüben in London.
Sie war noch nicht einmal mehr als Denunziantin nützlich.
Marie ging ihrer Arbeit als Verlagskorrektorin nach. Sie stand in der Mittagspause und nach Feierabend Schlange. Sie rauchte Club und trank Gotano. Sie nähte sich ihre Hosen selbst, nach Schnittmustern aus dem Westen, die ihr die Kollegin lieh. Deren Sohn schickte sie, in Päckchen mit Schokolade, Bohnenkaffee und einer Seife namens Fa. Sie hatte
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