Doppelte Schuld
gelassen.«
»Wie geht’s ihm denn, dem Grafen? In seinem Alter …« Faber wiegte den Kopf.
»Ganz gut, soweit ich weiß. Ich besuche ihn später. Aber um Moritz mache ich mir mehr Sorgen. Es ist zuviel passiert in den letzten Tagen.«
Der Apotheker nickte. »Ich hab’s dir gesagt, Katalina, erinnerst du dich? Zwei Kerle, nicht von hier. Von der altbekannten Firma Horch & Guck, wenn mich nicht alles täuscht. Der Tote da oben bei euch im Park – das waren Profis. Und wenn die deinen Moritz entführt haben …« Er machte eine Miene, die sie kannte und die sie zur Verzweiflung trieb. Es war die »Da kann man gar nichts machen«-Miene. Das »Wir müssen erst mal abwarten«-Gesicht. Der »Regen Sie sich mal nicht auf, Frolleinschen«-Blick.
»Ich dachte – wir sollten ihn suchen. Du kennst dich aus. Du weißt, wo man jemanden verstecken könnte. Du kennst doch hier in der Gegend jeden Tunnel, jede Höhle, jedes Erdloch.« Sie wußte, wie sie klang. Hilflos, bettelnd, kindlich.
Der Blick Walter Fabers bestätigte ihre Befürchtungen. Er hatte Mitleid.
»Katalina.« Behutsam.
Mehr wollte sie nicht hören. Er war ein alter Mann, er würde für den Rest seines Lebens hinter jedem Fremden die Stasi vermuten. Aber helfen konnte er ihr nicht.
»Danke, Walter.« Sie drehte sich um und ging.
Am Lühnertorplatz kaufte sie eine Zeitung für Gregor, Blumen mochte er nicht. Vor dem Krankenhaus leinte sie Zeus an, er würde auch so warten, aber sie wollte niemanden verängstigen. Auf der Station löste die Frage nach dem alten Grafen helle Aufregung aus. Ob sie eine Angehörige sei, der Graf brauche Wäsche und das Nötigste zur Körperpflege, sagte die resolute Stationsschwester. Außerdem verlange er nach Lektüre, etwas »Vernünftiges«. Dabei habe die Krankenhausbibliothek doch immerhin alles von Anna Seghers, Bert Brecht und ein, zwei Bände Simmel zu bieten!
»Es geht ihm also gut?«
Katalina erntete einen empörten Blick. Ihre Frage war wohl pietätlos. »Außerdem brauchen wir dringend die Daten seiner Krankenversicherung.«
»Lassen Sie mich doch erst einmal zu ihm. Ich tue, was ich kann.«
Gregor lag allein auf dem Zimmer. Katalina setzte sich auf den Stuhl neben dem Bett und betrachtete den alten Kerl, der in den weißen Krankenhauskissen lag und lächelte wie ein sattes Kind. Seine Werte waren normal, die Haut rosig, das Haar gekämmt. Sogar das Gebiß hatte er im Mund. Sie lächelte zurück. Sie hatte ihn immer gemocht, schon bei der ersten Begegnung, als er ebenfalls im Bett lag und krank war – besser gesagt: krank spielte.
»Ich habe einen Engel gesehen. Ich hab’ sie sofort erkannt. Sie hat sich überhaupt nicht verändert.« Der Alte wirkte glücklich und verwirrt zugleich.
»Sie haben eine Erscheinung gehabt, Graf?« Er fing an zu phantasieren. Oder zu delirieren?
»Genau, liebe Katalina. Eine göttliche Erscheinung.« Jetzt grinste der Alte spitzbübisch. »Sie ist zurück, Katalina. Sie ist wieder da.«
Katalina beugte sich vor und legte ihm die Hand auf die Stirn. »Fieber haben Sie nicht«, stellte sie nüchtern fest.
»Stella«, flüsterte der Alte. »Ich habe Stella gesehen.«
Stella. Der Kosename für Mathilde von Bergen, einst verlobt mit Gregor von Hartenfels. Die Mutter von Moritz. Katalina schüttelte den Kopf.
»Und wenn ich es dir sage, Mädchen: Sie stand vor mir. Leibhaftig. Es war wie ein Traum.«
»Dann war es wohl ein Traum.«
»Nein. Es war schöner als das. Es war die Wirklichkeit.«
War das möglich? Mathilde von Bergen zurück in Blanckenburg? Katalina erinnerte sich an das Bild, das auf Gregors Schreibtisch stand. Das Foto eines ernsten Mädchens, die blonden Haare lagen wie ein Helm um das schmale Gesicht mit den großen Augen. Sechzehn war Mathilde damals gewesen. Wie mochte sich ein Gesicht in fast siebzig Jahren verändern? Es waren nicht die Falten, die ein Gesicht älter erschienen ließen – es waren die Konturen, die weicher und formloser wurden. Katalina stellte sich Mathildes Gesicht heute vor, fülliger geworden vielleicht, die Augen kleiner, die Kinnpartie nicht mehr so straff und klar. Die Haare dünner. Die Frisur die einer alten Frau. Sie erinnerte sich an niemanden in Blanckenburg, der diesem Bild nahekam.
Aber Gregors Blick hatte sich offenbar auf andere Dinge gerichtet. »Sie hat gelächelt«, sagte er. »Das süßeste, schönste Lächeln.« Er hatte das Unverwechselbare gesehen, das eine intime Merkmal, das immer wiederzuerkennen
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