Doppelte Schuld
ist.
»Wie«, fragte Katalina, »lächelt sie denn?« Sie hatte ein Lächeln vor Augen, das unnachahmlich war, das sie auch nach Hunderten von Jahren wiedererkennen würde, wenn ihr so viel Zeit bliebe. Es war Gavros Lächeln, bevor er sie küßte.
»Schief«, sagte Gregor. »Den linken Mundwinkel ganz leicht hochgezogen. Wie ein Schuljunge.«
Sie mußte ihn angestarrt, nein angeglotzt haben, denn er grinste zurück.
Mary Nowak. Die Frau mit dem Blindenhund lächelte so. Mary Nowak mußte so alt sein wie Mathilde von Bergen. Der Graf hatte offenbar recht, Mathilde war zurück, Moritz’ Suche hatte ein Ende.
Und ausgerechnet er war nicht da.
Hastig stand sie auf, küßte Gregor auf die kühle Wange und sagte: »Ich komme bald wieder.« Im Flur ging sie noch. Dann begann sie zu laufen. Zeus hielt das Ganze für ein wunderbares Spiel. Aber Katalina hatte plötzlich das Gefühl, als ob es um Leben oder Tod ginge.
Benjamin Dimitroff. Er hatte nach einem Blindenhund gesucht. Er hatte nach Mary Nowak gesucht. Er hatte nach Marie Mathilde von Bergen gesucht. Jetzt war er tot.
War das vielleicht das Schicksal, das allen drohte, die nach ihr suchten? Und was geschah mit denen, die sie fanden?
Katalina hatte nicht aufs Wetter geachtet. Es war düster geworden, der Wind frischte auf, aber es regnete nicht. Sie bog von der Halberstädter Straße in die Tränkestraße ab, noch immer in einem Tempo, das Zeus bei Laune hielt und sie atemlos machte. Doch der kühle Wind tat ihr gut, er streichelte gegen den Druck an, der ihren Kopf zersprengen wollte. Mathilde von Bergen. Moritz’ Mutter. Steckte sie hinter der Entführung von Moritz? Katalina konnte sich keinen Grund dafür vorstellen.
Am Markt blieb sie stehen und holte Luft. Geradeaus führte der Weg hoch zum Schloß. Links ab ging die Marktstraße in Richtung Hotel Viktoria Luise.
Eine Windbö zerrte an ihrer dünnen Jacke. Der Himmel verfinsterte sich. Also erst eine Regenjacke holen, dachte sie. Und dann … Mit ihr reden. Sie fragen. Aber was?
Zeus lief voran, geradeaus, Richtung Bartholomäuskirche und dann weiter, die Treppen hoch in den Schloßpark. Vor dem Kutscherhaus erwartete sie die vertraute Abordnung von Pfauen. Nicht schon wieder, dachte sie. Die Viecher standen immer da, wenn jemand sie wieder einmal als Tierheim mißbraucht hatte.
Diesmal war das Päckchen klein, das vor der Tür zum Kutscherhaus lag und auf dem die Tiere herumzupicken schienen. Zeus sah sie fragend an. »Soll ich?« sagten die treuherzigen braunen Augen. Sie nickte. Er war mit einem Satz mitten in der illustren Schar, die sich mit Flügelschlagen und Gezeter verabschiedete. Katalina trat näher.
Es war noch nicht einmal ein Päckchen, das da auf der Schwelle lag, eher ein großer Briefumschlag, den man gefaltet und mit einer Schleife verziert hatte, unter der Schleife steckte eine Karte mit einem pausbäckigen Glücksschwein, das ein vierblättriges Kleeblatt im grinsenden Maul trug.
Sie schloß auf und trug das Päckchen zum Küchentisch. Zeus hob die Schnauze und sog die Luft ein, er roch etwas. Sie hielt sich das Päckchen vor die Nase. Der Geruch war ihr mittlerweile vertraut. Es roch nach Mary Nowaks Parfüm. Sie schlitzte den Umschlag mit dem Küchenmesser auf und ließ den Inhalt auf den Tisch gleiten. Es war ein verschrumpeltes, rosiges, blutverkrustetes Etwas. Sie mußte aufgeschrien haben, denn Zeus kläffte erschrocken. Es war ein Ohr, das da auf dem Küchentisch lag. Ein Schweineohr, von einem kleinen Schwein. Von einem Ferkel. Susi.
Ihr Magen hob sich, und ihre Kehle brannte. Sie packte das Ohr wieder in den Umschlag und drehte die kitschige Postkarte um. Die Handschrift war präzise, pedantisch sogar. Und die Botschaft war ebenfalls genau. »Wenn Sie Ihren Freund wiedersehen wollen, dann fragen Sie Mary Nowak nach Sirius.«
Was ist das für eine Frau? fragte sich Katalina, als sie losliefen, Zeus noch immer bester Laune, sie noch immer atemlos. Ihr Sohn sucht seine Mutter, aber die meldet sich nicht, obwohl sie schon seit einer Woche in der Stadt ist. Seit einer Woche. Katalina blieb stehen und ließ Zeus eine offenbar aufregende Spur im Unterholz einer Eiche verfolgen. Hoffentlich war die Fährte nicht zu aufregend. Vor einer Woche hatte der Hund den Toten im Gebüsch gefunden, kurz nachdem sie Mary Nowak das erste Mal begegnet waren. Sie würde keine weitere Leiche verkraften.
Im Schloßpark herrschte ungewohnte Stille. Es war ihr bislang nicht
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