Dorfpunks (German Edition)
und fingen an, ernsthaft zu frieren. Wo sollten wir hin? Schließlich entdeckten wir auf einem Feld am Stadtrand einen trostlosen Betonrohbau, in den wir durch eines der offenen Fensterlöcher einstiegen. Drinnen war nichts, nur in einem Raum lag ein Fetzen von einem Pullover, den jemand augenscheinlich zum Wegwischen von Betonresten verwendet hatte. Ich versuchte, ihn überzuziehen. Es war, als wenn man einen Stein anziehen wollte. Der Pullover war sehr eng und kratzte fürchterlich, aber er schützte wenigstens etwas vor der Kälte. Wir kauerten uns in die Ecken und versuchten, erneut zu schlafen, aber es gelang uns nicht. Also liefen wir im Kreis, hüpften, machten Liegestütze. Im Morgengrauen, nach einer sehr harten Nacht, auf dem Weg zum Bahnhof fanden wir auf einem Sperrmüllhaufen eine etwa einen Meter große Puppe, einen Weihnachtsmann, der mit Styroporschnipseln gefüllt war und kein Gesicht mehr hatte. Wir malten ihm ein hässliches, schielendes Antlitz, nannten ihn «der Elke» und schlugen ihn erst mal richtig zusammen. Unser ganzer Frust landete in diesem Watschenmann, der uns gerade recht kam. Wir schleppten ihn von da an mit uns durch Italien, über die Alpen, bis zurück nach Schmalenstedt und auch im nächsten Urlaub wieder durch halb Europa. Wann immer es Frust oder Ärger gab, wurde der Elke vermöbelt. Abends musste er vor dem Zelt Wache halten, tagsüber wurde er auf den Rücken geschnallt. Er hatte einen harten Job, aber er bekam auch viel zu sehen. Heute liegt er eingemauert hinter einer Wand meines ehemaligen Jugendzimmers und wartet. Wartet darauf, dass er dort rauskommt, dass wir wieder losfahren, dass es wieder was vor die Möpp gibt. Manchmal spüre ich ihn hinter der Wand. Er ist noch genau der Gleiche und guckt mit seinem schielenden Eddingblick auf einen dunklen Punkt auf der Wand.
Als wir am Morgen zur Gepäckaufbewahrung kamen, waren wir völlig gerädert. Entnervt gaben wir dem Beamten das Geld für unsere Rucksäcke, banden den Elke auf und stiegen in die nächste Bahn. Auf dem Rückweg fuhren wir mit dem Zug bis Chiusa, zu Deutsch Klausen, das in den italienischen Alpen südlich des Brenners liegt. Dort stiegen wir erneut aus, um uns die Stadt anzuschauen. Am Marktplatz hing eine Gruppe Mädchen in unserem Alter vor einem Brunnen rum. Wir setzten uns etwas resigniert auf eine Parkbank, hatten wir doch bis jetzt in Italien keinen einzigen Kontakt zu einem weiblichen Wesen hinbekommen. Da kamen sie zu uns und quatschten uns an. Sie waren zu viert oder zu fünft, sprachen alle ziemlich gut deutsch, und wir unterhielten uns lange mit ihnen. Über Musik, Punk, coole Klamotten und so. Sie luden uns ein, bei ihnen zu bleiben. Wir freuten uns sehr und verbrachten noch drei Tage in Chiusa, während deren sie uns die Wohnungen ihrer Eltern zeigten, den Platz unter der riesigen Autobahnbrücke, wo sie Partys feierten, und ihre Lieblingsdisco. Aber schlafen mussten wir alleine draußen. Dabei sah vor allem eine von ihnen zum Verlieben aus, sie war wild, verrückt, hübsch und machte allerlei verlockende Andeutungen. Manche Leute behält man ein Leben lang im Kopf, obwohl man sie nur ein paar Stunden gesehen hat.
Nach dem dritten Tag verabschiedeten wir uns von unseren Freundinnen und fuhren ab. Wir sahen sie nie wieder.
Unser Urlaub ging langsam zu Ende, das Geld war alle, und Flo musste sich für die Rückreise noch per Blitzgiro Geld nach Bayern überweisen lassen. Ein durchgeknallter Honighersteller fuhr uns schließlich mit 220 Stundenkilometern Richtung Norden, ließ uns eine Nacht in seinem Esszimmer übernachten, in dem er uns einschloss. Am nächsten Tag waren wir zurück. In unserer Stadt.
Schwaster Rühmann
Meine schulische Karriere nahm auch an der Realschule keinen guten Fortgang. Ich hatte alle Informationseingänge komplett versperrt und ließ mir von niemandem mehr etwas sagen. Ich hasste die meisten Erwachsenen. Dem Zugriff meiner Eltern entzog ich mich mehr und mehr, vor allem dem meiner Mutter, auch wenn er ein liebender war, für mich war er erstickend. Ich konnte dahinter nichts Positives erkennen, nur etwas Bremsendes.
Unsere ganze Familie teilte ein Schicksal: Schule. Zur immer gleichen Zeit aufstehen und in diese Zwangsanstalt fahren müssen, es war mir ein Horror.
Desillusionierte Erwachsene treffen auf rebellierende Pubeszenten, ein Krieg der Generationen. Und die Schule war voll mit Leuten wie meinen Eltern, die sich um Leute wie uns kümmern mussten. So eine
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