Dorfpunks (German Edition)
wagemutiger wurde ich.
Stundenlang saß ich manchmal in Schmalenstedt bei Sids Vater im Wohnzimmer und redete mit ihm in einer Art frei improvisierten Geheimsprache, die vollkommen sinnlos war. Wir hatten beide großen Spaß. Es war meine erste dadaistische Erfahrung, ich war begeistert von dem Mann. Außerdem durfte ich dort Bier trinken.
An einem besonders schönen Sommerabend im Juli 1982 wollten Sid und ich bereits früh zu Meier trampen. Wenn man in diesen Jahren nach Ladenschluss an Alkohol kommen wollte, gab es in der ganzen Stadt nur eine Adresse: Käthe. Die Tankstellen führten damals ausschließlich Treibstoff. Käthe hatte, aus für mich unerfindlichen Gründen, immer auf, und von Holsten Edel über Kröver Nacktarsch bis hin zu Springer Urvater stand einfach jede billige Flüssigdroge in ausreichenden Mengen im Regal. Vielleicht hatte sie eine Sondergenehmigung, vielleicht kriegten die Behörden ihren schwunghaften Kleinhandel aber auch einfach nicht mit. Ohne Käthe wäre Punk in Schmalenstedt so nicht möglich gewesen. Sie war bereits älter, vielleicht sechzig, klein und trug eine grauhaarige Perücke. Reden tat sie nie viel, sie schmunzelte höchstens ein wenig, wenn wir in unserer lauten und wilden Art bei ihr einfielen. Sie brauchte uns, so wie wir sie brauchten; wir kauften oft und in großen Mengen bei ihr. Wann immer uns der Vorrat ausging, wurden Einzelne zu ihr geschickt, um nachzukaufen. Wenn man klingelte, dauerte es eine Weile, dann ging die Tür auf, während sie, ohne zu grüßen oder den Kunden anzuschauen, bereits hinter ihren Minitresen wieselte, der in einem kleinen Raum rechts direkt hinter der Eingangstür lag. Die Tür zum Wohnzimmer, in dem der Fernseher immer lief, stand einen Spaltbreit offen. Dann kauften wir ein. Süßigkeiten, Tabak und Alkohol.
Bevor wir irgendwo hinzogen, gab es immer die obligatorische Ansage: «Okay, lass erst mal zu Käthe gehen.»
Sid und ich hatten uns bei Käthe also zwei Flaschen günstige Spätlese geholt und trampten so um acht Uhr rüber nach Behringsdorf. Dort legten wir uns ein Stück vor der Disco auf einen kleinen Hang an der Landstraße, tranken, redeten und beobachteten den langsam ansteigenden Discoverkehr. Der Abend war wunderschön, die Luft warm, das Gras und das nahe Meer rochen so gut. Es gab eine nur hauchdünne Grenze zwischen uns und der Welt, und mit jedem Schluck wurde sie durchlässiger. Ich empfand die Situation als pures Glück, und ich weiß noch genau, wie wir uns darüber unterhielten, dass wahre Freundschaft in dem Moment anfängt, wo man miteinander schweigen kann. Dann schwiegen wir. Die ganze ungebrochene Kraft meiner Jugend strahlt von diesem Moment wie eine entfernte Sonne bis in meine Gegenwart und erinnert mich daran, was für ein reiches Gefühl ich verspürte, mit all den Möglichkeiten und all der Zeit vor mir. Ich wusste: Meine Konten waren noch voll.
So um etwa neun Uhr hörten wir etwas auf der Straße. Wir setzten uns gespannt aufrecht hin. Aus der Ferne sahen wir eine schier unendliche Karawane aus Motorrädern auf uns zurollen, alles Chopper, gelenkt von ledernen Haubesen, Rocker von den «Born to be wild» aus Berlin. Vielleicht waren es hundert, vielleicht zweihundert, ich weiß es nicht mehr. Sie fuhren in Zeitlupe an uns vorbei, ein paar von ihnen winkten uns zu, und wir winkten zurück. Ich war begeistert, denn ich hielt Rocker für Outlaws. Sie mussten sozusagen schon von den Genen her auf der richtigen Seite stehen, außerdem trugen sie Leder und zerfetzte Jeans, ähnlich wie wir. Ich war vorher noch nie echten Rockern begegnet und wusste nichts über sie. Als sie alle vorbeigefahren waren, Richtung Meier’s, rappelten Sid und ich uns auf und zogen hinterher. Wir waren freudig erregt und neugierig, was der Abend uns bringen würde. Dann hatte auch noch jemand vor dem Nachbarshop Behringsdorf seinen Mercedes mit offenem Kofferraum stehen lassen. Drinnen lag eine Kiste Springer Urvater. Dankbar nahmen wir sie von dem abwesenden Spender entgegen und begannen sofort mit der Entleerung der ersten Flaschen. Einige Minuten später kamen wir bei Meier an. Der ganze Parkplatz stand voll mit Maschinen. Viele der Rocker waren bereits drinnen, um Bier zu trinken. Sid und ich unterhielten uns mit denen, die draußen standen, und die schienen okay zu sein, obwohl sie uns offenbar nicht richtig für voll nahmen.
Gegen Mitternacht war der Laden voll, es war ja auch noch einiges an normalem Landvolk
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