Dorfpunks (German Edition)
Schule ist ein grausamer Ort. Dort gibt es keine Gerechten.
Ich brach während des zehnten Schuljahrs ab, es hatte einfach keinen Sinn mehr. Das sahen dann auch meine Eltern ein. Es war nur noch Qual für mich. Aber sie prophezeiten mir, dass ich nicht lange auf der faulen Haut liegen dürfe, sie würden etwas für mich suchen. Von mir aus. Ich hatte erst mal frei und war stolz darauf wie ein Sack Mücken. Ich war ein freier Punk!
Leider nicht lange. Meine Eltern beschlossen, mich ins Jugendaufbauwerk der Heilsarmee nach Saale zu schicken. Mitten im Wald auf einer Anhöhe stand dort ein großes Anwesen mit dem Namen Berghof, in das Eltern aus dem Umkreis von fünfzig Kilometern ihre jungen Versager steckten. Die etwa hundert Insassen (einige wohnten fest dort, andere pendelten) waren ein bunt zusammengewürfelter Haufen, Kinder sozial derangierter Alkoholiker, schwer verhaltensauffällige Hauptschüler und unangepasste Vögel, wie ich einer war, versehen mit dem, was man heute Attention Deficiency Syndrom nennt (Ozzy Osbourne). Ich mochte die Mischpoke, wir verstanden uns. Einige von ihnen waren wirklich strapaziös dämlich, aber viele hatten einen herrlich anarchistischen Esprit.
Das Jahr war in vier Grundkurse aufgeteilt. Im ersten sollten wir Gärtner lernen, im zweiten Küche, im dritten Büro und im vierten Friseur. Gartenbau, Hauswirtschaftskunde, Buchhaltung und EDV, Friseur – für jeden was dabei. Mich persönlich interessierte in erster Linie der Friseurbereich, weil es hier Haarfärbemittel in Hülle und Fülle gab.
Die Leiterin, Frau Vogel, die einen winzigen Oberkörper auf einem gigantischen Po spazieren führte, lenkte die Legion mit ruhiger Hand. Sie und ihre Untergebenen stammten noch aus der idyllischen Zeit, in der es keine Jugendbewegungen gegeben hatte, die ihren Anhängern Weltanschauung, Umgangsformen und Körperhygiene versauten. Ich als Punk war für sie etwas unverständlich Sinnloses, sie nahm meine Kleidung wahrscheinlich eher als ein Zeichen von Armut und Verwahrlosung denn als Ausdrucksmittel meiner nonkonformistischen Persönlichkeit wahr.
Jeden Tag fuhr ich mit dem Bus nach Saale und ging von dort durch den Wald eine halbe Stunde hoch zu unserem Idiotenschloss. Am späten Nachmittag fuhr ich wieder zurück nach Schmalenstedt.
Die anderen Jungs im Heim verstanden zwar nicht, warum ich Punk war und was das überhaupt sein sollte, aber sie teilten meinen Ehrgeiz für Widerborstigkeit und flegelhaften Humor. Sie waren ebenfalls Punks, aber ohne es zu wissen.
Vor dem Essen wurde gemeinsam Hand in Hand gebetet. Es war mir zuwider, aber ohne diese Prozedur gab es kein Essen. Zähneknirschend ließ ich den Sermon daher über mich ergehen. Eines Tages entdeckte der stellvertretende Heimleiter, der das Essen organisierte, dass ich Nietenarmbänder trug, und wies mich an, diese beim Essen abzunehmen. Auf keinen Fall wollte ich nachgeben, und obwohl ich mitbetete, gab es jetzt doch Grund genug, mich vom Essen auszuschließen. Am nächsten Tag kam ich ihm mit dem Grundgesetz, aber er ließ sich auf nichts ein. Ich verbrachte mehrere Tage mittags allein und fastete, bis ich schließlich klein beigab und mir die Armbänder fürs Essen abschnallte. Ich hasste ihn dafür.
Die Grundbildungskurse durchlief ich ohne Leidenschaft, bis auf den Friseurkurs, und tatsächlich durfte ich mir hier umsonst die Haare blondieren. Interessiert verfolgte der Kursleiter meine Techniken, wie man kurze Haare zu Stacheln formt. Er brachte mir im Gegenzug die großen Abendgalafrisuren bei, wie sie beispielsweise eine Hannelore Kohl gerne trug.
Im Berghof wohnte ein Junge, der Horst Günther Rühmann hieß oder so ähnlich. Wir nannten ihn nur «Schwaster Rühmann». Er kam aus sehr einfachen Verhältnissen, und ich bin mir nicht sicher, dass er richtig schreiben und lesen konnte. Er war an sich sehr zurückhaltend, aber manchmal blitzte bei ihm eine verdeckte Form von Schalkhaftigkeit auf. Eines Tages bekam ich mit, wie er ein Lied vor sich hin sang. Es handelte von einem einsamen Zigeuner an einem Wasserfall, der sich nach dem Tod sehnt. Oder so. Ich merkte an der hölzernen Metrik des Textes, dass dies kein gewöhnlicher Schlager sein konnte, und fragte Schwaster, was er da sänge. Er sagte mir, der Song sei von ihm. Er würde öfters Lieder schreiben, bevorzugt Schlager, die hätte er am liebsten. Irgendwas klickte bei mir, ich spürte ein tiefes inneres Grinsen. Schlager war so was von verpönt, bei
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