Dorfpunks (German Edition)
dass ich keine andere gebraucht hätte. Auch nicht diesen Ort, den ich meiner Mutter zuliebe besuchte. Diesen Ort, der ein Zugeständnis war, an sie und an eine Welt der Erwachsenen, an Pläne von Fremden, an Bewegungen, an denen ich nicht beteiligt war. Ich war nicht beteiligt an dieser Lehre, ich ließ meinen Körper unsere Anwesenheitspflicht erfüllen, aber innerlich war ich weit weg. Das waren Knastgefühle. Ich fühlte mich eingesperrt, für mich war das Isolationshaft. Einmal am Tag kam die Wärterin und brachte Futter, den Rest machte ich mit mir selber aus.
Um der Starre zu entkommen, musste ich oft all meine Kraft konzentrieren. Ich ballte den Hass in meinen Fäusten und ließ diese befreiend auf alles niederfahren, was vor mir auf der Scheibe oder neben mir auf dem Trockenbrett stand, manchmal die Produktion des ganzen Vormittags. Der Scherbenhaufen erlöste mich, ich konnte aufstehen, mich wieder bewegen, in den Garten gehen, mich ablenken.
Ich war dementsprechend relativ unproduktiv, denn entweder hatte ich die Starre, oder ich zerstörte das wenige, das mir gelang.
Mein einziger Gefährte war Rasmus, der Riesenschnauzer, ein großer, lieber, dummer Hund, der diese drei Jahre den ganzen Tag auf dem Fußboden lag und sehnsüchtig auf Kunden wartete, aber jedes Mal einen unglaublichen Lärm veranstaltete, sobald wirklich jemand die Ladentür anfasste. Dann schrie ich wiederum den Hund zusammen, während der Kunde vor lauter Gebrüll schon wieder auf dem Weg nach draußen war.
Manchmal spielte ich Spiele mit Rasmus, z. B. Verstecken. Dazu band ich ihm ein Geschirrhandtuch vor sein Hundegesicht, versteckte mich und rief ihn dann. Das war sehr lustig, weil er immer gegen alle möglichen Hindernisse lief. Ich stellte mich beispielsweise hinter die Tür und rief ihn. Dann rannte er gegen die Tür. Darüber musste ich sehr lachen. Nachmittags nahm ich ihn und ging mit ihm spazieren. Ich mochte ihn.
Der einzige Kontakt zur Welt während meines einsamen Arbeitstages war das Radio. NDR 1 und NDR 2, Private gab es damals zum Glück noch nicht. Aber die Öffentlich-Rechtlichen waren knarzlangweilig. Trotzdem mochte ich Ruth Rockenschaub, Gitti Gülden, Werner Fink und wie sie alle hießen, sie verbreiteten so etwas Gemütliches, Langweiliges, Gesundes. In dieser Zeit entwickelte ich eine meiner Grundtechniken, Musik wahrzunehmen. In der «Schachnovelle» von Stefan Zweig sitzt der Protagonist jahrelang in einer Einzelzelle im Gefängnis. In der Stille der Isolation beginnt er mit kleinen Teigfiguren auf seiner karierten Bettdecke Schach zu spielen. Nach einiger Zeit braucht er die Figuren nicht mehr, er spielt Schach im Kopf und wird so nach Jahren zum besten Schachspieler der Welt. Er kann nicht mehr aufhören, im Kopf zu spielen. Die Leidenschaft ist zum Automatismus geworden.
Wenn ich in meiner Zelle saß und meine Hände langweilige Vasen formen sollten, scannte mein Geist wie ein sehnsüchtiger Radar die Welt ab. Meine Augen konnten ihm nichts Sättigendes bieten, denn sie starrten den ganzen Tag auf die Rückseite der Stellinger Kirche oder in ein paar doofe Touristenaugen, die mich hohl durch die Butzenscheiben musterten.
«Oh, guckt mal, ein echter Töpfer bei der Arbeit.» Kotz. Was war für mich brauchbar, wie konnte ich fliehen und strahlen? Der NDR war alles, was mich erreichte. Das Programm war ziemlich schlecht, alle möglichen Schlager, der übliche Elton-John-Poprock. Ich hörte irgendwann auf, die Musik an sich zu beurteilen, sondern fing an, sie im Kopf auseinander zu nehmen, bis ich etwas Gutes darin fand. Schicht für Schicht schälte ich die schmierige Oberfläche ab, um zu einem interessanten Strang im Inneren zu gelangen. Das konnte alles sein: ein sonderbarer Basslauf, der Sound einer Snare in einem langweiligen Tony-Marshall-Song, ein Atmer am Ende eines Refrains, Glöckchen, die fast unhörbar über der Musik schwebten, unsauberes Klatschen, eigenartige Streicherfiguren, irgendetwas Gutes war immer dabei, etwas, das mich mitnahm. Seitdem gibt es für mich eigentlich keine schlechte Musik mehr, ich finde immer etwas darin, außer vielleicht bei Céline Dion. Fast automatisch fange ich seitdem an, die Stücke, die ich höre, zu sezieren, mich auf einzelne Sounds oder Frequenzen zu konzentrieren, um etwas Geheimes zu finden. Da liegt so viel aus dem Leben von Menschen rum. In jedem Beatles-Song sind drei Minuten der wirklichen Lebenszeit der Beatles, ihrer Körper, ihrer Stimmen und
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