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Dorfpunks (German Edition)

Dorfpunks (German Edition)

Titel: Dorfpunks (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rocko Schamoni
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ihres Atmens enthalten, sie sind wirklich da, sie leben in diesem Moment für immer in dieser Aufnahme. Und je weiter ich reinhöre, desto mehr erfahre ich über sie und all die anderen. Ich könnte eine Ausstellung machen mit all den aufgeschlitzten Songkörpern, um die Menschen ihr Inneres verstehen zu lassen, und ich könnte sie «Notenwelten» nennen oder «Songwelten», oder so. Aber warum sollte ich so was Bescheuertes tun?
    Mein Fenster in die Welt, mein Draht zum Zentrum war allerdings «Musik für junge Leute». Ich glaube, es kam um halb zwei und ging bis drei, so ungefähr. Das war die schönste Stunde am Tag für mich, dort lief alles, was mich interessierte, ich blühte auf, während ich mit Tabak und Blättchen vor dem tonbeschmierten Radiorecorder saß und mitschnitt. Paul Baskerville war mein Lieblingsmoderator, ich fand fast alles, was er spielte, gut (unter anderem: Joe Strummer, Toy Dolls, Lords of the New Church, the Godfathers, The Alarm, New Model Army, The Pogues). Ich las Sounds und Spex, Baskerville war aber oft noch etwas schneller, da er nicht monatsgebunden kam. Der Klang der MfjL-Moderatoren gab mir ein inneres Zuhause-Gefühl, ich liebte ihre Stimmen, sie waren der Beweis dafür, dass ich nicht alleine war, dass meine Anstrengung, anders zu sein, nicht bloße Psychose war, sondern dass es sich lohnte, für eine dissidentische Weltsicht zu leiden.
    Angeregt von der Sendung setzte ich mich hin und bastelte an einem eigenen Fanzine. So nannte man damals die selbst gebastelten und kopierten Hefte von Punks für Punks. Ich hatte davon aus Hamburg gehört und bei David mal welche gesehen. Seitdem hatte ich den Wunsch, ein eigenes rauszubringen, meine eigene kleine Zeitung. Baskerville hatte in MfjL von einer englischen Band namens «Blue Bells» erzählt, deren Sänger vormals ein eigenes Fanzine gehabt hatte, in dem er aus lauter Faulheit ständig von erlogenen Bands berichtete. Diese Berichte waren allerdings wundervoll geschrieben, und einer der schönsten war der Artikel über die imaginären «Blue Bells». Ein Freund drängte ihn, diese tolle Band endlich zu gründen, und das tat er dann auch. Sie waren sehr erfolgreich und hatten mit «Young at Heart» einen Nummer-1-Hit in England. Mich überzeugte die Idee der erlogenen Konzert- und Plattenkritik aus verschiedenen Gründen:
Ich hatte keine Ahnung.
Ich kam sowieso so gut wie nie auf Konzerte.
Keiner konnte im Fall einer erfundenen Band das Gegenteil beweisen – ich war der Typ mit dem Tipp.
    Ich schrieb also die eine Hälfte meiner Artikel aus anderen Zeitungen ab, und die andere Hälfte erfand ich. Dabei berichtete ich von Bands mit so bescheuerten Namen wie «Die Giftzwerge», die ich in Neumünster gesehen haben wollte und die ich sehr schlecht fand. Ich konnte sie an dieser Stelle definitiv nicht weiterempfehlen. Ich schrieb über eine exquisite, sehr seltene neuseeländische Punk-LP von einer Band namens «The Shitlers», Titel der Platte: «Greatest Shits». Es lohne sich aber nicht, danach zu suchen, man könne sie hier sowieso nicht bekommen, ich hätte sie über einen geheimen Importweg teuer erstanden. Und lauter so Blödsinn. Ich schnitt Bilder aus allen möglichen Zeitungen, bevorzugt aber aus medizinischen Fachjournalen aus und designte daraus mein Heft. Am wichtigsten war natürlich der Name. Ich überlegte sehr lange, und schließlich war ich mir sicher, dass das Heft «Bitte ein Pissscheiße» heißen sollte. Die für mich faszinierende Idee dabei war, dass die Käufer im Zeitschriftenladen statt «Bitte einen ‹Stern›» «Bitte ein ‹Bitte ein Pissscheiße›» hätten verlangen müssen. Dass kein normaler Zeitschriftenkonsument von meinem Fanzine wusste, geschweige denn danach verlangen würde, ignorierte ich geflissentlich. Als das erste Musterstück nach zwei Wochen fertig vor mir lag, war ich unglaublich stolz. Mein erstes wirklich eigenes Werk. Ein rundes Produkt mit durchaus ansprechendem Äußeren und informativem Inhalt, zwar nur schwarzweiß und DIN A5, aber immerhin zwanzig Seiten dick. Ich kopierte es dreißigmal, und mit jeder kopierten Seite wuchsen meine Glücksgefühle. Die Idee von Reproduktion fuhr in mich und blieb für immer in mir stecken. Ein Einzelexemplar zu vervielfältigen bedeutete, dieses zum einen aus dem Status des Luxusgutes Unikat in ein für den Käufer erschwingliches Replikat zu verwandeln, zum anderen, es durch die Vervielfältigung auf ein seriöses Niveau zu heben. Wenn davon

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