Dorfpunks (German Edition)
alt wie meine Eltern waren, was sollte ich denn da? Und dann wurde dort die ganze Zeit Jazz gehört, das fand ich ebenfalls eher abstoßend. Aber am Ende konnte ich meine Neugierde nicht mehr zähmen, die Geschichten, die die anderen erzählten, klangen zu spannend.
Irgendwann im Frühling 1984 kam schließlich auch ich mit Piekmeier zum Sachsenstein. Wir hatten uns am frühen Abend bei Käthe eine Flasche Spätlese gekauft und gingen die ganze Strecke zu Fuß, von Schmalenstedt an der Umgehungsstraße entlang durch Dörp, vorbei an der Bushaltestelle mit den obligatorischen Dorfprolls, über die kurvige Landstraße durch den Rapianer Wald und dann am Ende die lange, schnurgerade Lindenallee bergauf zum Turm. Als Kind war ich hier mal mit meinen Eltern gewesen, zum Ostereiersammeln. Jetzt sah ich die Szenerie mit neuen Augen. Links und rechts der Allee lagen die weiten Felder im Licht des Frühlingsabends, Getreide und duftender Raps, hinter uns versank, während wir bergauf gingen, der Wald, und dahinter erschien glitzernd die Ostsee. Der Kies der Auffahrt knirschte unter unseren Springerstiefeln, auf der Terrasse saßen Gäste bei einem Glas Wein, und vor uns ragte dunkel der zinnenbewehrte Turm zwischen riesigen Tannen in den dunkelblauen Abendhimmel. Wir waren zwei Fremdobjekte in dieser Idylle, unsere Klamotten hatte jemand in London in einem Laden, der «Sex» hieß, gestrickt, für City-Action, aber nicht für das hier.
Links und rechts vom Eingang standen Holzregale, die mit Wein und eingelegtem Gemüse gefüllt waren. Im Schankraum hinter dem alten Holztresen stand, mächtig und mit Vollbart, Paul und zapfte Guinness. Über dem Tresen lag kreischend David Becker, in knallroten Satinhosen und mit flunsigen Haaren, um sich einen Rotwein zu angeln, den er in sudelnder Punkmanier direkt aus der Flasche soff. Flankiert wurde er von mehreren vollbärtigen Mittvierzigern, die aussahen wie sozialdemokratische Biologielehrer, ihm aber trink- und gröltechnisch in nichts nachstanden. Ich war beeindruckt. Flo war ebenfalls zugegen und in der Szene offenbar bekannt. Das Ganze wurde überschallt von sehr lauter Jazzmusik. Ohne über größere Bargeldreserven zu verfügen, bestellte ich Bier und dann noch mehr Bier. Man gab mir viel davon. Binnen kurzer Zeit war ich von der Qualität des Hauses in jeder Hinsicht überzeugt und fand auch Jazz auf einmal gut. Im Verlauf des Abends ging das Gelage zunehmend in eine Art halbritterliches Kampfspiel über, bei dem Piekmeier immer wieder bis zu vier Barhocker hintereinander aus dem Stand übersprang. Diese Tresensportart sollte er von jetzt an für viele Jahre pflegen. Schließlich arteten die Spiele in dampfende Mutproben aus. Dabei ging es darum, dass jeweils einer von uns Punks einem der bärtigen Lehrertypen eine brennende fette Zigarre auf dem nackten Bauch ausdrückte. Nachdem diese zischende Brandwunde platziert war, durfte wiederum ein Bärtiger einen von uns verkohlen. Auch hier war Piekmeier mit Freude und Innovationsgeist bei der Sache. Er mochte Verletzungen. Bei anderen, aber auch bei sich selber.
Viel später endete der Abend damit, dass Paul das Licht ausschaltete und danach die Kerzen mit faustweise Bargeld ausschmiss. Dann tranken wir auf dem Rasen Sekt im Liegen. Das mochte er gerne. Die Sonne ging auf, um uns zu belästigen. Paul nahm kein Geld von uns, wir gefielen ihm, vielleicht erinnerten ihn unsere Wildheit und unser Trotz an irgendetwas. Ich bekam ein anderes Bild von den Erwachsenen. So konnten sie also auch sein. Vielleicht waren Erwachsene so eine Art Doctor Jekyll und Mister Hyde, tagsüber brave Lehrer und nachts rollende Bierfässer. War das so? Machten meine Eltern das auch? Ich hatte sie noch nie dabei erwischt.
Von nun an gingen wir immer öfter auf den Sachsenstein, und langsam, aber sicher löste er Meier’s ab. Das sollte zwar Jahre dauern, aber an diesem Punkt begann es.
Paul wurde zu einer Art Herbergsvater für die durchgedrehtesten Kids der Gegend und wir zu seinen treuen Jüngern. Er war der Nachtvater. Oft gingen wir von Schmalenstedt aus zu Fuß durch den Wald zu ihm, jedes Mal acht Kilometer weit. Wir schleppten eine Palette Bier mit uns und hielten am grundlosen See an einer Lichtung im Wald, um dort unseren Durst zu löschen. Wir hielten eigentlich dauernd, um unseren Durst zu löschen. Auf dem Sachsenstein angelangt, gaben wir Paul den Rest der Palette, und er stellte sie für uns kalt. Im Laden durften wir nur sein Bier
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