Dorfpunks (German Edition)
ungerecht, aber ich konnte die Befürchtungen meiner Mutter einfach nicht verstehen, ihre Sorgen nicht ertragen, ihre Liebe nicht erwidern. Ich machte sie für alles verantwortlich, dafür, dass ich so früh aufstehen musste, dafür, dass ich den ganzen Tag einsam war, dafür, dass ich mir im Sommer keinen Urlaub nehmen durfte, für den Käfig meines Lebens. Sie konnte mich nicht verstehen. Ich sie auch nicht. Es tut mir Leid.
Die Menschen mit den hohen Stimmen
Ich bekam im ersten Lehrjahr monatlich einhundert D-Mark Lohn, im zweiten zweihundert und im dritten fünfzehntausend, eine etwas sonderbare Steigerung, wie ich jetzt im Nachhinein empfinde.
Mit meinem allerersten selbst verdienten Lohn ging ich am ersten Juni an einem Freitagabend auf den Sachsenstein. Ich war stolz wie Bolle. Es war ein warmer Sommerabend, und ich setzte mich auf die Terrasse vor dem Turm, um mir ein Guinness zu bestellen. Menschen kamen den Feldweg hoch, um die Aussicht zu genießen, es war noch hell. Am Tisch neben mir saßen die tollsten Hippiemädchen aus der ganzen Gegend: Jennifer, Lara und Sybill. Ich kannte sie schon lange vom Sehen her, hatte aber noch nie gewagt, sie anzusprechen, da sie bereits etwas älter waren und uns jungen Punks irgendwie unberührbar schienen. Besonders Jennifer, sie sah so gut aus, und wenn ich sie in ihrem getigerten Bikini und mit ihrem langen, braunen, gewellten Haar am Strand sah, blieb mir fast das Herz stehen. Ich beneidete sie um sich selbst. Nie hätte ich geglaubt, bei ihr eine Chance zu haben, vor allem, weil sie auch noch mit dem coolsten Hippietypen von Big Bobel zusammen war. Aber nach einem Humpen Guinness nahm ich all meinen Mut zusammen und ging an ihren Tisch. Ich fragte, ob ich sie zu etwas einladen dürfe, und sie sagten freudig zu. Die drei waren offen, entgegen meiner Erwartung überhaupt nicht arrogant und sehr lustig. Eigentlich sahen sie gar nicht wie Hippiemädchen aus, wir Punks hatten sie nur unter diesem Segment verbucht, weil sie mit einigen älteren Hippiepunktypen rumhingen. Jennifer hatte etwas sehr Unbestechliches an sich, sie meinte es ernst mit der Welt. Aber ihr gefiel das Hallodrihafte an mir. Ich ließ all mein Geld und meinen ganzen Charme wirken, redete mit ihr über alles Mögliche, brachte sie zum Lachen, umgarnte sie, und um Mitternacht machte ich ihr einen Heiratsantrag am Tresen, vor Paul Mascher. Das war natürlich nur ein Schachzug, um mein wahres Ziel zu kaschieren und dabei trotzdem voranzutreiben, nämlich sie endlich küssen zu dürfen. Paul gefiel der Heiratsantrag, er fachte das Feuer mit vollen Kräften an, gab uns Sambuca zu trinken und brüllte immer wieder durch den Laden, wir seien nun ein Hochzeitspaar. Jennifer gefiel das; sie und ihr Freund hatten sich nämlich vor kurzem getrennt, und sie suchte Ablenkung. Ich war sehr stolz, dort mit ihr zu stehen, ließ es mir aber nicht anmerken, sondern tat im Gegenteil so, als wenn das nichts Besonderes in meinem Punkplayboyalltag wäre. Meine Freunde beneideten mich.
Später in dieser Nacht standen Jennifer und ich draußen auf dem Rasen zwischen den Bäumen, im Schatten des Turms unter den nördlichen Sternen, und wir küssten uns. Es war der bis dahin aufregendste Kuss meines Lebens. Über uns schien der Vollmond, den ich so liebte, der mich immer ganz verrückt machte. Sie war die erste Frau, von der ich wirklich etwas wollte. Sie war so lässig, so selbstbewusst, so reif, so schön und klar. Später fuhren wir mit dem Taxi nach Schmalenstedt und gingen getrennt nach Hause.
Die nächsten Tage konnte ich es kaum glauben. Sie stand auf mich! Aber wie sollte ich jetzt weiter vorgehen? Sollte ich mich bei ihr melden? Auf das nächste zufällige Treffen warten? Und was, wenn sie wirklich etwas von mir wollte? Schreck, lass nach. Ich wartete ab. Bis zum nächsten Wochenende auf dem Sachsenstein. Aber sie kam nicht. Ich war enttäuscht. Wieso kam sie nicht, wollte sie etwa doch nichts von mir? Sauerei. Später am Abend fuhren wir zu Meier. Wenn Paul uns rausschmiss, handgreiflich manchmal, mussten wir zu Meier. Und dort traf ich sie wieder. Auf der Tanzfläche, in den tausend Blitzen der Discokugel tanzte sie alleine. Ich stellte mich vor sie hin und sie lächelte. Wir tanzten gemeinsam. Dann redeten wir lange, und meine anfängliche Angst und Unsicherheit wich wieder verliebter Aufregung. Auf einer Bank neben der Tanzfläche unterhielten wir uns so lange, bis wir alle Rückfahrmöglichkeiten nach Hause
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