Dorfpunks (German Edition)
trinken, aber zum Abschied gab er uns unsere Vorräte zurück, und so hatten wir Wegzehrung für den Heimmarsch, den wir antraten, wenn es hell wurde.
Freiwillige Isolationshaft
1983 fing ich meine Töpferlehre an. Am zweiten Mai, in Stelling hinter der Kirche, in einer kleinen, heißen Töpferei. Ich fuhr morgens um sieben, nachdem meine Mutter ihren ewigen, zähen Weckkampf gegen mich gewonnen hatte, mit dem proppenvollen Bus von Schmalenstedt nach Saale. Das dauerte eine halbe Stunde. Der Bus duftete immer nach frisch gewaschenen jungen Leuten, die zur Lehre oder zur Berufsschule fuhren. Oft mussten wir dicht gedrängt stehen, weil wir so viele waren. Ich war der einzige Antikörper im ganzen Wagen, denn ich wusch mich selten und frisierte meine Haare morgens mit Bier. Eine Flasche reichte meist für etwa eine Woche, mit ein paar Handgriffen kriegte man so die Haare schön stachelig. Aber sie rochen dadurch ziemlich abgestanden und muffig. Ich stank immer nach Bier, obwohl ich stocknüchtern war. Ich war sozusagen Haaralkoholiker. Der Gestank war ein Schutzschild. Die anderen schwiegen und drehten sich weg. Ich fühlte mich einzigartig und auf ehrenvolle Weise ausgeschlossen.
Den Weg von zu Hause zum Bus und vom Bus zur Töpferei legte ich mit einem kleinen, billigen blauen Plastikskateboard zurück, was mich zu der Annahme verleitete, dass ich Skatepunk sei, wie die Ami-Skater, von denen ich gehört hatte. Obwohl ich mich darauf eigentlich nur wie auf einem Tretroller bewegte. Ich konnte keine Tricks, ich konnte eben einfach nur vorankommen. Ich war vielleicht eher Rollerpunk. Der Weg von unserem Haus zur Bushaltestelle führte einen steilen Berg hinab. Jeden Morgen raste ich die raue Teerstraße herunter und hoffte, dass mir kein Kiesel im Weg liegen würde. Aber einmal ist immer das erste Mal. Am Fuß des Berges, am Punkt der höchsten Geschwindigkeit blieb mein Skateboard eines Morgens einfach abrupt stehen. Vor den Augen verdutzter Anwohner flog ich mehrere Meter an ihren Wohnzimmerfenstern vorbei und bremste meinen Flug schließlich widerwillig mit der Nase auf dem Asphalt. Dann stand ich schnell auf und tat so, als wenn das Ganze eine von mir beabsichtigte Übung gewesen wäre. Ich machte auf normal, stieg sofort wieder cool auf das Board und rollerte wie selbstverständlich weiter. Meine Nase war dick und rot vor Blut und sah aus wie ein Papageienschnabel.
Von acht bis halb zehn döste ich jeden Morgen in der Hitze des Brennofens vor mich hin, ich war oft so müde. Dann begann ich mit hektischen Aktivitäten, denn ungefähr gegen zehn kam meistens die Chefin. Sie war eine kleine, agile Frau mit einer harten Schale und einem guten Herzen. Ihr Mann nannte sie Drops. Wir redeten nie sehr viel, aber jeder von uns spürte die Verlorenheit des anderen. Sie hatte sich zur Meisterin ausbilden lassen und wollte nun mit mir ihren einzigen Lehrling ausbilden, denn sie hatte Gicht in den Händen und wusste, dass sie diesen Beruf nicht mehr lange ausüben konnte. Ich sollte der triumphale Schlussakkord ihrer Karriere sein.
Sie kam in die Werkstatt, brachte ihren Hund, den Riesenschnauzer Rasmus, vorbei, braute sich einen vor Stärke zähflüssigen Kaffee und zeigte mir dann ein paar Handgriffe aus dem Lehrbuch. Wie ich den Ton durchzuschlagen hätte, wie ich die Drehscheibe vorbereiten müsste, wie ich den Ton drehen sollte. Sie machte vor, ich machte nach, ich machte vor, sie verbesserte mich. So ungefähr eine oder zwei Stunden, dann ging sie wieder und ließ mich allein in meinem Jugendknast. Auf der einen Seite gefiel mir ihr Verschwinden, so konnte ich machen, was ich wollte, auf der anderen Seite war ich einsam.
Wenn sie ging, vollführte mein Körper die gerade ausgeübten Bewegungen weiter, wie eine ausschwingende Feder. Ich wurde langsamer, bis meine Aktivität zum Stillstand kam. Eine Starre begann mich zu umklammern, die manchmal stundenlang anhielt. Ich saß an der Töpferscheibe, starrte erschöpft auf den in der Fertigung befindlichen Gegenstand, der nass in meinen Händen rotierte, nahm den Fuß vom Gaspedal und trat in die absolute Bewegungslosigkeit ein. Die Lehre, die totale Leere. Quälendes Nichts. Kraftlosigkeit, Ohnmacht, Sehnsucht, Hass, all das vermischt zu einem rauschenden Weiß der Gefühle. Der Wunsch, zu strahlen, so viel mehr zu strahlen, als es dieser kleine Ort zulassen würde. Zu explodieren mit all der in mir gefesselten Kraft. Zu beweisen, dass meine Vision die richtige war,
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