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Dornenkuss - Roman

Dornenkuss - Roman

Titel: Dornenkuss - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: script5
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ungewöhnlich lang, aber ich wollte aussteigen. Klavierspiel von einem Klavierspieler, der vor mir hockte, anstatt am Klavier zu sitzen – das war mir zu surrealistisch. Aber ich wachte nicht auf. Ich befand mich immer noch vor diesem Fremden, der mich nach wie vor mit unschuldiger Neugierde anstrahlte. Offenbar interessierte er sich für mich.
    »Ich dachte …« Ich befeuchtete meine Lippen. »Ich dachte, du spielst auf dem Piano, und jetzt …«
    »Und?« Angelos Lächeln verbreiterte sich. Schöne weiße Zähne, die Eckzähne ein bisschen hervorstehend, was niedlich aussah und nicht bösartig. Wie ein kleiner Vampir. Doch je mehr mein Gehirn arbeitete, sortierte und auswertete, desto unfassbarer wurde die Situation. Sie sprengte meine Denkkapazitäten.
    »Warum verstehe ich dich?«, wisperte ich. Das hatten wir doch schon einmal gehabt. In Verucchio.
    »Wieso solltest du mich denn nicht verstehen?«
    »Ich – ich dachte, du sprichst italienisch …«
    »Tu ich ja auch.«
    Ich wollte aufstehen und davonrennen, nur weg von hier, um aufwachen zu können, manchmal half das, doch Angelo brach in ein lautes, herzliches Lachen aus und ließ sich zurück auf den blanken Boden fallen, obwohl eine Vespa, die aus dem Nichts aufgetaucht war, ihn knatternd umrunden musste. Mit dem Fuß stoppte er mich. Mein Blick fiel auf seine Sandalen. Die ersten modischen, kleidsamen Männersandalen, die ich jemals gesehen hatte, edel und lässig, vielleicht sogar sexy. Ein weiterer Pluspunkt für Italien.
    »Hey, bleib hier … Ich spreche deutsch und die Musik kommt aus den Boxen, mein offizieller Job beginnt erst in einer halben Stunde. Setz dich wieder. Alles in Ordnung. Du hättest dein Gesicht sehen sollen …« Er lachte immer noch, ein Junge, der sich an seinem gelungenen Streich erfreute. Ich konnte nicht sauer auf ihn sein. Sein Heiterkeitsausbruch war zu entwaffnend.
    »Okay, du bist also kein …« Im letzten Moment unterbrach ich mich. Schnauze, Ellie, dachte ich gehetzt. Was hatte ich hier sagen wollen? Du bist also kein Mahr? Wie sollte ein normaler Mensch das auffassen? Normale Menschen hatten mit Mahren nichts zu schaffen, wussten nichts von ihnen. Ich hatte mich viel zu lange nicht mit normalen Menschen umgeben. Irgendwann würde ich mich fürchterlich verplappern.
    Angelos Strahlen verblasste, als er mir zusah, wie ich mich wieder setzte, um Zeit zu gewinnen, aber seine Augen behielten ihr schelmisches Funkeln. Dennoch war auch in ihnen ein Ernst zu erkennen, der mir nicht behagte.
    »Doch, bin ich«, gab er offen zu. »Ich bin ein Mahr.«
    Sein unverblümtes Geständnis, das ich ihm nicht einmal hatte entlocken müssen, paralysierte mich. Ich konnte, nein, wollte es nicht glauben und spürte gallige Enttäuschung in mir aufsteigen, weil ich viel zu genau wusste, dass es stimmte. Sein Blick ließ keine anderen Deutungen oder Ausweichmöglichkeiten zu. Er log nicht und er machte sich auch nicht wichtig. Er sagte die Wahrheit.
    »Bitte nicht …«, seufzte ich zutiefst betrübt und ließ den Kopf auf meine Knie fallen, obwohl es mir wie ein Frevel vorkam, meine Augen von ihm abzuwenden. Er war ein Mahr. Kein Mensch. Schon wieder ein Mahr … Musste sich von nun an jeder faszinierende (alternativ: schreckliche) Mann als Dämon entpuppen? War es zu viel verlangt, dass es einen Typen à la Grischa gab, der menschlicher Natur war und mich wahrnahm?
    Zu spät schaltete mein Hirn auf Alarmbereitschaft und warnte mich vor der Gefahr, in der ich mich gerade befand. Wir hatten François unschädlich gemacht, hatten Tessa getötet, ich war mit einem Cambion zusammen, der uns dabei unterstützt hatte – und saß hier mit einem fremden Mahr in einer schmalen Gasse und hielt einen Plausch! War ich eigentlich noch bei Trost?
    Wieder unternahm ich einen Versuch, aufzustehen und wegzulaufen, doch das getigerte Katerchen krallte sich an meinem nackten Bein fest, was schmerzhafter war, als seine zarten Pfoten vermuten ließen. Ohne mich zu berühren, pflückte Angelo den kleinen Tiger mit einem sicheren, zärtlichen Griff von mir ab und setzte ihn auf seinen Oberschenkel.
    »Du musst keine Angst vor mir haben. Klingt blöd, ist aber so. Du hast wohl keine besonders hohe Meinung von uns, was?«
    »Na ja, ich … also echt«, entgegnete ich lahm. Um diese Frage wahrheitsgemäß zu beantworten, hätte ich mehrere ausschweifende Essays verfassen müssen. Wie sollte ich denn nach all dem, was ich erlebt hatte, eine hohe Meinung

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