Dornenkuss - Roman
einen verwahrlosten Penner erblickten. Vielleicht war er das sogar für sie, ein Penner, der in einer Höhle hauste und dem der Alkohol weibische Züge ins Gesicht gemalt hatte. Für das Rauschen in seinem Körper waren sie offenbar taub. Nur ich nahm es wahr.
Der Aufstieg wurde immer mühseliger, obwohl die Sonne sank und der Wind meine Stirn kühlte. Mit jedem neuen Schritt kehrten einzelne Erinnerungen zurück, die mich überforderten und hilflos machten, weil ich sie nicht mehr in Einklang mit dem bringen konnte, was mich hierhergeführt hatte.
Gianna … Gianna mit ihren Bauchschmerzen und ihren ehrgeizigen Versuchen, mir etwas zu erklären und mich auf etwas aufmerksam zu machen, aber was war es gewesen? Ich konnte es nicht wissen, ich hatte ihr nicht zugehört.
Tillmanns Beichte, dass er drogenabhängig sei. Warum drogenabhängig – war er es die ganze Zeit gewesen und ich hatte es nur nicht registriert oder war es eine neue Entwicklung? Überhaupt, Tillmann und ich, waren wir nicht Freunde gewesen? Warum ärgerte ich mich dann, wenn ich an ihn dachte? Genau, es hatte einen Streit gegeben, weil er mich gefilmt hatte … Mir war immer noch nicht klar, warum er das getan hatte, ich hatte auf dem Film nichts Außergewöhnliches erkennen können. Paul hatte sich ebenfalls gegen mich gestellt, mich zu Bett geschickt wie ein kleines, ungezogenes Mädchen, das bestraft werden musste – wie hatte er sich das herausnehmen können?
Vor allem hatten sie ständig etwas an mir ändern, verbessern und korrigieren wollen. Trotzdem sorgte ich mich um sie; ich wusste nicht, wo sie waren. Waren sie schon zurück nach Deutschland gefahren und ich hatte es verpasst? Sie hätten sich von mir verabschieden müssen. Oder hatten sie es versucht?
Der Einzige, an den ich noch verlässlich denken konnte, war Angelo; mit ihm wäre alles in bester Ordnung gewesen, wenn ich nicht so albern gewesen wäre und einen Flug gebucht hätte. Zu einem Mahr, der sterben wollte. Und der etwas mit mir vorhatte, was er mir nicht verraten wollte …
Ich verbiss mich so sehr in meinen haltlosen Mutmaßungen, dass ich die Reize des Städtchens erneut ignorierte, für mich waren es nur Gassen, mustergültig sauber gefegte Gassen mit Touristenläden und Cafés und Restaurants, die sich mit fortschreitender Dämmerung leerten. Wo all die Menschen waren, die sie normalerweise belebten, sah ich, als der Mahr neben mir stehen blieb und auf die dunkelblaue Caldera blickte. Sie schauten sich den Sonnenuntergang über dem Meer an. Sie hatten sich hier versammelt, auf einem umzäunten Felsvorsprung, die Kameras vor ihren Augen, um zu beobachten, wie die Sonne im glatten Aquamarin versank, nichts Spektakuläres, es geschah jeden Tag. Warum dieser Aufruhr?
Eine Gruppe Japaner hatte sogar eine tragbare MP3-Anlage auf das Mäuerchen am Rande des Felsvorsprungs gestellt und spielte Chill-out-Musik ab, doch sobald wir uns zu den Menschen gesellten, verloren die Batterien ihre Kraft und der Song verklang. Obwohl die Sonne noch nicht untergegangen war, leerte sich der Aussichtspunkt nach und nach. Der Frau neben mir wurde sichtlich kalt und sie redete auf Englisch davon, krank zu werden, wenn sie länger hierbliebe. Ein Pärchen begann zu streiten, über Belanglosigkeiten. Eine Gruppe Seniorinnen beschloss, doch jetzt schon etwas essen zu gehen, obwohl ihre faltigen Münder sich wie vor Übelkeit verzogen.
Als die Sonne ins Meer tauchte und die dünnen Schleierwolken über ihr in grellem Pink anstrahlte, waren wir vollkommen alleine. Wir hatten die anderen vertrieben. Ich spürte genau, dass es nicht nur der Mahr gewesen war. Auch ich hatte sie mit Unbehagen und Ruhelosigkeit erfüllt, ohne zu verstehen, warum. Mir war aufgefallen, dass der Mahr meine Haare zu einem Zopf geflochten hatte, während ich geschlafen hatte – wie, wusste ich nicht, ich selbst schaffte es nicht mehr –, doch noch immer konnte ich mich nicht überwinden, mein Gesicht abzutasten oder mich gar anzusehen. Ich wollte mich nicht sehen.
Vielleicht ging es den Menschen genauso.
Wir standen nebeneinander, die Hände auf die Mauer gelegt, und schauten zu, wie das Meer die Sonne zu sich nahm und für den Bruchteil einer Sekunde ein grünliches Leuchten am Horizont aufflackerte und wieder erlosch. Dann wurde es dunkel.
»Können wir beginnen?«
»Werde ich meine Freunde wiedersehen?« Der Satz war schneller ausgesprochen, als ich ihn zu Ende denken konnte. Doch auf einmal war diese
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