Dornenkuss - Roman
Frage wichtiger als alle anderen.
»Du wirst sie wiedersehen, wenn du auf dein Herz hörst.«
Auch diesen Satz hatte so ähnlich schon einmal jemand zu mir gesagt. Wer, konnte ich nicht benennen, aber ich wusste, dass ich ihn in einer wichtigen Angelegenheit befolgt hatte. Vor langer, langer Zeit. Ich schwieg betroffen und versuchte, meine Panik in Schach zu halten, die sich wie eine erboste Schlange in mir erhob. Ich bestand nur noch aus Gedächtnislücken. Waren sie schon Teil seines Plans?
»Ich werde nun dafür sorgen, dass du das, was du siehst, ertragen kannst, so lange, bis erledigt ist, was erledigt werden muss. Danach wirst du die Kraft haben, dich der Wahrheit zu stellen. Vorher wird es dich schützen. Bist du damit einverstanden?«
»Ja«, wisperte ich. Ich brauchte Schutz, ich brauchte ihn mehr denn je, allen Schutz dieser Welt.
»Gut. Dann wird es jetzt beginnen.«
Ich rechnete damit, dass er meinen Kopf nehmen und seine Stirn gegen meine drücken würde, aber es geschah nichts dergleichen, er blieb stumm neben mir stehen und schaute aufs Meer, also tat ich es ihm gleich, während die Angst sich so schwer auf meine Brust legte, dass ich kaum mehr atmen konnte.
Doch nach einer Weile gab ich meine Versuche, meine Lungen mit Luft zu füllen, auf. Ich musste nicht mehr atmen. Das Rauschen in meinem Körper ersetzte meinen Atem und verlieh mir mehr Kraft und Stärke, als der Sauerstoff in meinem Organismus es jemals könnte. Auch das Schlagen meines Herzens wurde überflüssig. Es setzte aus und überließ dem pulsierenden Rauschen seine Arbeit.
Kurz verblassten die Felsen und das Meer vor meinen Augen, bis sie klarer und farbiger denn je vor mir erschienen. Doch es war nicht mehr das dunkle, mit Rot vermischte Vulkangestein von Thira, sondern eine graue, zerfressene Felsformation, von gelben, vertrockneten Ginsterbüschen und wulstigen Feigenkakteen durchsetzt. Auch das Meer unter mir hatte eine andere Farbe, azurblau vermischt mit tropischem Türkis. Ich hörte die Fische durch das Wasser gleiten und roch ihre glänzenden Schuppen, obwohl ich mich weit über ihnen befand, doch überraschen konnte dieses Phänomen mich nicht mehr. Es war eben so.
Ich mochte diesen Ort, das Capo Vaticano, ein mythischer Platz, doch meine Vorsehung sagte mir, dass er heute seinen Zauber verlieren würde – wieder ein Ort mehr auf der Welt, an dem ich keine Ruhe mehr finden konnte. Es gab kaum ein Fleckchen Land, auf dem keine Knochen gebrochen, keine Körper geschändet und keine Seelen grausam zerstört worden waren. Die Erde war ein Schlachtfeld, der Boden von Blut getränkt und ich wollte es endlich verlassen können.
Leichtfüßig kletterte ich hoch über dem Meer die steilen Felsen entlang, kein einziges Mal war ich in Gefahr zu stürzen – und wenn, hätte es auch nichts an meiner ewigen Verdammnis geändert. Der nördliche Wind zerrte eisig an meinen dünnen Kleidern. Ich registrierte, dass er kalt war, aber seine Böen lösten keinerlei Gefühle in mir aus, kein Frieren, aber auch keine Erquickung. Es war mir gleichgültig, welches Spiel die Natur mir präsentierte; ich spürte es sowieso nicht.
Hier ging es nicht um sie. Es ging um uns, die wenigen, die geblieben waren und bereit, sich einander zu zeigen. Wie in Stein gehauen standen sie auf den einzelnen Felsen, ihre Gesichter leer und hohl, ihre Augen tote Löcher ohne Pupillen.
Dann tauchte Angelo aus einer Felsspalte auf, mit dem Rücken zu mir, ein schweres Bündel auf seiner rechten Schulter. Ich erkannte ihn sofort an seinem blonden Schopf und seinen jugendlich-unbekümmerten Bewegungen, die ihn auch dann nicht verließen, als er das Bündel über seinen Kopf hob und mit brachialer Wucht auf den scharfkantigen Felsen vor ihm schleuderte, es von Neuem hob und gegen den nächsten Stein krachen ließ, es war beinahe wie ein Tanz, ein Schritt, ein Schleudern, ein Schritt, ein Schleudern. Es erfüllte ihn mit Lust und Macht, das zu tun. Reglos schauten die anderen ihm zu.
Das, was hier geschah, war kein simpler Mord. Es war eine Hinrichtung.
Ich trat näher an ihn heran, bis meine Ahnung ihre schreckliche Bestätigung fand. Das Bündel war ein Mensch, ein Mensch mit braunem, lockigem Haar und dunkelblauen Augen, die schon nicht mehr hier waren. Seine nackten Arme und sein Gesicht waren übersät von tiefen Schnittwunden und Blutergüssen und dennoch sah er berückend schön und entspannt aus. Er hatte vorgesorgt, so wie er es angekündigt
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