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Dornenkuss - Roman

Dornenkuss - Roman

Titel: Dornenkuss - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: script5
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würde in dieser Höhle noch meinen Verstand verlieren. Er wollte mich nicht berauben, er wollte mich nicht töten, verwandeln offensichtlich auch nicht, was mich enttäuschte, aber auch ein wenig erleichterte, denn im Moment war ich mir in nichts mehr sicher und ich wollte, dass Angelo es tat, nicht der Hermaphrodit. Ja, Angelo sollte es tun. Also, wozu war ich hier? Es war Zeitverschwendung, nutzlose Zeitverschwendung, die mich nur weiter von Angelo entfernte. Mein Zeitfenster schloss sich gerade, ich konnte dabei zusehen. Das Licht schwand mit jeder Minute, die verstrich. Ich war so blöd, warum war ich überhaupt hierhergereist? Nur wegen eines Anrufs? Konnte ich denn gar nicht mehr vernünftig denken?
    »Die Verwirrung wird sich lichten«, versprach der Mahr ruhig. »Es dauert seine Zeit, bis der Geist sich erholt. Erst möchte ich etwas tun, was es dir leichter macht, es zu ertragen.«
    Okay, das hatten wir eben schon einmal gehabt. Senilität oder Hypnose? Doch was machte das schon aus, er würde sich ohnehin nicht abhalten lassen, er fragte mich ja gar nicht, er kündigte es nur an. Ich musste es über mich ergehen lassen.
    »Aber nicht hier. Nicht in dieser Höhle. Bitte nicht. Ich möchte etwas sehen können.«
    »Du wirst etwas sehen. Und dein Wunsch soll dir gestattet werden, gehen wir nach draußen.«
    Ohne jegliche Eile erhob er sich. Ich hatte mich nicht vertan, als ich seine Größe geschätzt hatte, sein Haupt reichte bis zu meiner Schulter, was seiner imposanten Ausstrahlung keinen Abbruch tat. Mir war wieder entfallen, was seine Augen mir gestern gezeigt hatten, doch auch ohne eine tiefere Bedeutung fraß meine Seele sich in ihnen fest, sobald ich mir erlaubte hineinzusehen. Trotz ihrer strahlenden Helligkeit, umschlossen von einem dunkelgrauen Ring, war ihre Tiefe bodenlos. Ich konnte in sie eintauchen, ohne Angst zu haben, dass ich fiel und mich verletzte. Sie fingen mich immer wieder auf. Vielleicht war das der abstruseste Punkt in dieser ganzen Farce hier: Obwohl ich von tiefer, aufrichtiger Ehrfurcht erfüllt war, flößte mir dieser Mahr keine Angst ein. Aber auch das konnte ein Trick sein; ich musste wachsam bleiben.
    Er ging mir voraus und kletterte behände über die Felsen, gekleidet in eine schlichte weiße Tuchhose und ein dünnes beiges Hemd, Seniorenklamotten, wie ich boshaft bemerkte, doch an ihm sahen sie eher aus wie die zeitlose Tracht eines indischen Yogalehrers. Seine Füße steckten in ausgetretenen Ledersandalen, Jesuslatschen, wie man so schön sagte, und einen Moment lang überlegte ich, ob sie vielleicht sogar aus der Zeit von Jesus stammten. Hatte dieser Mahr Jesus gekannt?
    Ungeschickt krabbelte ich ihm hinterher, bis wir den steilen Treppenweg hinauf zur Stadt erreichten, an dessen Fuße er mir die Gelegenheit gab, zu Atem zu kommen. Die Sonne stand tief und rot über dem Meer. Beklommen sah ich mich um. Außer uns war niemand hier.
    »Sonnenaufgang oder Sonnenuntergang?«, fragte ich argwöhnisch.
    »Sonnenuntergang.«
    Sonnenuntergang? Das bedeutete, dass ich einen ganzen Tag lang geschlafen hatte, vierundzwanzig Stunden lang! Es war keine Einbildung gewesen, mein Zeitfenster schloss sich tatsächlich. Zwei Tage waren bereits verstrichen, seitdem ich Kalabrien und Angelo verlassen hatte; mir blieben noch weitere achtundvierzig Stunden, um zurückzukehren und alles zu klären, denn verwandelt wurde ich hier anscheinend nicht. Ich war völlig umsonst gekommen, verplemperte leichtsinnig meine Zeit! Vierundzwanzig Stunden lang schlafen, das musste doch nicht sein …
    Wir sollten uns sputen. Ich schritt mit ausladenden Bewegungen voraus, doch der Mahr ließ sich nicht hetzen, nahm sich Muße für jede einzelne Stufe, die vor ihm lag, begleitet von dem Rauschen in seiner Brust. Ich fragte mich, ob die anderen Menschen es nicht hörten und sich darüber wunderten, auch über seine zierliche Gestalt und seine frappierende Zweigeschlechtlichkeit, ganz abgesehen von diesen irrsinnig hellen Augen, denn nun kam uns doch eine Handvoll Touristen entgegen. Irgendetwas musste ihnen auffallen, das hier war ein Mahr, der sich ihnen ohne jegliche Zurückhaltung zeigte! Doch als sie uns passierten, wandte er seinen Kopf von ihnen ab und tat so, als würde er die Felsformationen studieren. Sie beschleunigten ihr Tempo ein wenig und hörten auf, miteinander zu sprechen, aber ihr Benehmen unterschied sich nicht wesentlich vom typischen Verhalten aller Menschen, wenn sie auf offener Straße

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