Dornenkuss - Roman
hatte.
Begriff Angelo denn nicht, dass er gar nichts mehr spürte? Warum hieb er seinen Körper weiterhin gegen die Felsen, wir alle hatten es doch gesehen? Es genügte. Wenn er ihm weiterhin so zusetzte, würde es mir die Zeit nehmen, das zu tun, was ich ihm versprochen hatte. Zum ersten Mal seit unendlich vielen Jahren musste ich mich beeilen.
»Angelo.«
Seine Bewegungen gefroren, das Bündel weit über seinen wehenden Locken. Sein zufriedenes Lächeln erstarb, als er sich zu mir umdrehte. Eine seelenlose, verschwommene Maske.
»Gib ihn mir. Ich will es tun. Ich habe so lange darauf gewartet.«
Er würde mir nicht widersprechen. Ich besaß mehr Macht, als er jemals erlangen würde. Er musste sich mir fügen.
Er ließ das Bündel fallen, doch ich war rasch genug bei ihm, um es aufzufangen und wie er über meinen Kopf zu erheben, um sein Gesicht auf die Felsen zu schlagen und Millimeter vor dem Aufprall abzufedern, sodass ich nichts mehr in ihm zerstörte. Ich täuschte sie. Und immer dann, wenn ich ihn über mich in die klare, reine Winterluft streckte, wanderten meine Gedanken zu seinen, in seinen Kopf und sein Herz, das noch schwach schlug, und ich gab ihm das, worum er mich gebeten hatte, falls es geschehen würde.
Ich wanderte mit ihm über die schroffen Klippen nach unten, zum Meer hinab, während ich seinen Körper durch die Luft wirbelte, und zum letzten Mal verzog sich sein Mund zu einem Lächeln, als er sah, was auch ich sah, während wir eins wurden – zwei Kinder, die uns anschauten, ein Mädchen und einen Jungen, beide ihm aus dem Gesicht geschnitten und doch so unterschiedlich. Das Mädchen scheu und wild zugleich, unbezähmbar ihr Geist, voller Fragen, Widersprüche und Ängste; der Junge ruhig und geduldig, aber stur wie ein Ochse und überzeugt davon, dass er sein Glück verdient und das Recht hatte, sich jedem in den Weg zu stellen, der es ihm streitig machen wollte.
Ich sah meine Frau, die schon lange wusste, was nun passieren würde und mich dennoch immer lieben würde, die bereit war zu trauern und für die es Erlösung bringen würde, wieder schlafen zu können. Ich wollte ihn ihr schenken, den Schlaf, und ich tat es gerne, denn irgendwann würden wir wieder beieinander schlafen, ohne Hunger und Angst, und gemeinsam träumen können.
Sie sahen mich an, liebevoll und ernst, als Morpheus mich ein letztes Mal über seinen Kopf erhob und hinab ins Meer warf, und ich hörte ihre Worte wie ein Lied, das mich begleitete, als die Wellen mich mit hinaus auf die See nahmen.
Wir lieben dich, Leopold Sturm. Wir lieben dich für immer.
»Mein Vater …« Ich schwebte sacht zurück in meinen eigenen Leib, so verletzlich und sterblich, doch es war nicht mehr ich, die ihn halten konnte. Morpheus hielt mich, während meine Brust krampfhaft und voller Schmerz wieder zu atmen begann.
»Mein Vater ist tot …«, flüsterte ich bebend.
»Ja, mein Kind. Dein Vater ist tot.«
Papas starker Körper trudelte in gemächlichen Kreisen auf den sandigen, tiefen Grund hinab und ein letztes Mal schlug er seine Augen auf.
Die Welt ist so schön, dachte er. Und starb.
A BGLANZ
»Wann? Wann ist es geschehen?«
Noch immer konnte ich nicht aus eigener Kraft stehen, doch Morpheus hielt mich so sicher und fest, dass ich nicht in Gefahr war zu fallen. Ich tat gut daran, meine sterbliche Hülle seinen Händen zu überlassen.
Eigentlich musste ich nicht fragen, wann es geschehen war. Der Wind war eisig gewesen und der Strand unter uns menschenleer, nicht bunt gesprenkelt von Sonnenschirmen und Badelaken wie an jenem heißen Nachmittag, an dem ich das Capo Vaticano zum ersten Mal erblickt und sofort geliebt hatte. Trotzdem musste ich diese Frage stellen; ich musste sichergehen, dass es nicht geschehen war, während ich zusammen mit Angelo durch die Nacht gewandelt war und ihm mein Vertrauen geschenkt hatte – nicht nur mein Vertrauen, sondern auch meine Zukunft, mein ganzes Leben. Denn das würde ich mir niemals verzeihen können.
»Im Frühjahr, kurz vor den Iden des März.«
Die Iden des März. Sie verhießen Unheil, schon immer war das so gewesen. Ich legte meine Arme um Morpheus’ Hals und versuchte, meine Füße auf den Boden aufzusetzen, um allein zu stehen, weil ich glaubte, meine Gedanken und Fragen auf diese Weise besser ordnen zu können. Doch es gelang mir nicht.
Ich hätte weinen und wüten sollen; was ich eben gesehen hatte, hätte mich innerlich zerfressen müssen. Ich hätte mir gegen die
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