Dornenkuss - Roman
hatte. Jemand hatte etwas mit mir gemacht, damit ich die Gegenwart besser ertragen konnte, damit sie nicht wehtat.
Ich drückte meine Handballen gegen die Augen, um mich zu erinnern, und die Bilder nahmen Gestalt an und näherten sich wie altvertraute Gespenster, die ich vertrieb, wenn ich wach war, und die mich heimsuchten, wenn ich schlief. Es war eine sternklare, kalte Nacht gewesen, ich sah meine nackten Füße auf dem feuchten Gras und meinen Kopf in seiner Halsbeuge, während die Jahreszeiten an uns vorüberflogen … Heiße Sonne auf meinem Rücken, Sturm in meinen Haaren und eisige Schneeflocken in meinem Nacken. »Warum weckst du mich nicht?«, hatte ich ihn gefragt und er antwortete: »Weil der Abschied zu sehr wehtun würde.«
Colin … Es war Colin gewesen, Colin kurz vor seiner Flucht vor Tessa. Er hatte damals etwas mit mir gemacht, was mich den Abschied leichter hatte hinnehmen lassen; sogar die Trauer hatte ich für einige Stunden willkommen geheißen. Dann hatte sie mir das Herz zerrissen, für immer und ewig.
»Colin«, flüsterte ich und berührte mit zitternden Händen meinen verzerrten Mund. Oh Gott, Colin. Colin, den ich geliebt und der mir meine Träume geraubt hatte. Er hatte sie geraubt – oder nicht? Ich war mir sicher gewesen, dass er das getan hatte. Wenn es stimmte, war jeder Gedanke an ihn zu viel. Aber was, wenn nicht? Und warum wollte ich weinen, wenn ich an ihn dachte?
Nein, ich durfte jetzt nicht an ihn denken, ich musste mich mit dem befassen, was mir bevorstand. Wenn ich es besser ertragen sollte, dann meinte der Mahr vielleicht gar nicht die Metamorphose, sondern wollte mir etwas Schlimmes zeigen oder sagen. Schlimmer als der Abschied von Colin im vergangenen Sommer?
Was sollte das sein? Betraf es am Ende Colin selbst? War ihm etwas zugestoßen? Oh nein … nein … Er hatte einem der Ältesten die Formel gestohlen, hatte er mir erzählt, während des Raubens, und beim ersten Mal beinahe mit seinem Leben dafür bezahlt. Scharfkantiger Stein hatte seinen Schädel aufplatzen lassen – Stein wie in dieser Höhle. Unwillkürlich griff ich an meinen Hinterkopf. Das Wesen vor mir musste eben jener uralte Mahr sein, er wusste davon und hatte Colin dafür bestraft, hatte ihn umgebracht … Er hatte ihn getötet! Genau das würde er mir zeigen wollen, Colins Tod, damit ich wusste, worauf ich mich einließ, wenn ich in die Welt der Mahre eintauchte. Damit ich nicht ebenso eigenmächtig wurde wie er …
Meine Gedanken rasten im Zickzack durcheinander, während ich rückwärts aus der Höhle zu kriechen versuchte, nur weg von diesem Mahr, er sollte nichts mit mir anstellen, ohne mir zu sagen, warum.
»Du hast Colin auf dem Gewissen!«, keuchte ich schwach. »Ich weiß es, du hast Colin getötet!«
»Nein.« Er öffnete zum ersten Mal seinen Mund, um zu sprechen, und ich gab meinen Fluchtversuch auf, als hätte jemand all meine Nervenstränge durchtrennt. Ich konnte mich nicht mehr rühren. »Er hat mich beraubt, während ich raubte, ein Frevel und unter uns Mahren das schlimmste Verbrechen, das es gibt. Ich hätte ihn töten müssen.«
»Und du hast es nicht, weil …?«, fragte ich angriffslustiger, als die Situation es mir erlaubte.
»Weil es keinerlei Sinn ergeben hätte. Er hat die Formel aus meinem Kopf geraubt. Ich habe sie nicht mehr. Ich hätte sie wiederum ihm rauben müssen, sobald ich wieder zu mir gekommen war, aber ich wusste auch, dass sie allein ihm nichts nützen würde. Er musste sie weitergeben, so schnell wie möglich. An Wesen, die lieben können.«
Er hatte sie an mich weitergegeben. An mich … Doch in diesem Moment konnte sogar ich mich nicht mehr an sie erinnern.
»Dann raubst du sie jetzt also von mir. Und tötest mich dann. Prima. Los geht’s, nur keine Scheu!«, forderte ich ihn mit wackeliger Stimme auf. »Allerdings erinnere ich mich nicht mehr an sie, kann gut sein, dass du gar nichts findest! Aber bitte – mein Kopf ist euer Reich. So war es doch immer, oder?«
Er lächelte milde. »Du wirst dich wieder an sie erinnern, mein Kind, und dann hoffe ich, dass du mir eines Tages hilfst. Tu es, wenn du so weit bist. Ich will gehen, ich bin zu lange hier. Es ist nicht recht, dass ich noch da bin. Ich möchte sterben.«
»Oh ja, das kommt mir irgendwie bekannt vor«, murrte ich. »Die nervige alte Litanei. Ich bin nicht die offizielle Mahr-Sterbehilfe, klar?«
»Darum geht es nicht.«
»Nicht?« Verflucht, worum ging es denn dann? Ich
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