Dornenkuss - Roman
geprägt. Diesen dunkelhaarigen Jungen mit den schrägen Augen, oder?« Morpheus richtete seinen wasserhellen Blick auf mich. Offenbar hatte er mich blindlings in die Nacht geschickt und darauf gehofft, dass ich das Richtige tun und entdecken würde. Irgendwie typisch Mahr. Schnaubend hieb ich einen losen Stein von der Wand. Er zerbröselte noch im Fallen.
»Ja. Ja, er ging auf meine Schule und ich habe ihn das erste Mal bewusst wahrgenommen, als ich vierzehn war und er mich grundlos sekundenlang angesehen hat, direkt in meine Augen, absolut grundlos …« Ich brach ab. Von wegen grundlos. Nichts war grundlos gewesen, auch nicht dieser Blick, doch er hatte keine Verbindung zwischen ihm und mir schaffen können. Nur zwischen mir und Angelo. Grischa hatte selbst nicht gewusst, warum er mich angesehen hatte. Ich hatte ihn schon vorher registriert, als blendend schönen Oberstufenschüler, aber nach diesem Moment, in dem meine Welt stillgestanden hatte, wusste ich, dass ich ihn niemals würde vergessen können. Nicht er hatte mich angesehen. Angelo hatte mich angesehen.
»Ist etwa ein Teil von ihm in Grischa drin? Aber wie soll das denn gehen …« Es war zu absurd.
»Nein.« Morpheus schüttelte sacht den Kopf. »Das kann auch Angelo nicht. Er muss ihn eines Nachts heimgesucht haben und ihm dabei die Essenz einiger schöner, jugendlicher Träume eingeflößt haben, die immer dann aufleuchten, wenn ihn jemand anschaut, der sich nach diesen Träumen sehnt und dem etwas in seinem Leben fehlt. Der Junge wirkt dann, als könne er sie erfüllen und alles gutmachen, was im Argen liegt. Er weiß selbst nicht, warum das so ist. Es wird ihm deshalb nie jemand wahrhaftig nahe sein können, weil die Menschen seine Gegenwart nicht wegen seiner selbst suchen, sondern wegen all dessen, was sie fälschlicherweise in ihm ahnen und erhoffen, obwohl es gar nicht aus ihm rührt.«
»Eine Projektionsfläche. Grischa ist eine Projektionsfläche.« Ich musste diese nüchtern-wissenschaftliche Umschreibung wählen, um nicht den Verstand zu verlieren. Es war absolut logisch, es erklärte vieles, beinahe alles – aber es erklärte nicht, warum Angelo das getan hatte. »Sie galt mir, oder? Ich sollte darauf hereinfallen?«
Wieder nickte Morpheus. »Ja. Du. Und niemand sonst. Die anderen Opfer kümmern ihn nicht. Der Knabe selbst kümmert ihn ebenfalls nicht. Ein Mittel zum Zweck, mehr nicht.«
Nichts war Zufall gewesen, sondern alles durchdacht und geplant. Vorhin hatte ich noch die vage Hoffnung gehegt, dass Angelo mich vielleicht doch schlichtweg hatte kennenlernen wollen, aus Neugierde, und dabei keinerlei moralische Zweifel verspürte, weil Mahre nun mal keine moralischen Zweifel kannten und ihnen Elternliebe sowieso kein Begriff war. Jetzt wusste ich, dass einzig sein Spieltrieb ihn dazu gebracht hatte, mein Leben zu begleiten, zu prägen und zu manipulieren. Was von alldem in den letzten Jahren war überhaupt zufällig passiert?
»Aber wieso? Was habe ich ihm getan? Ich bin doch nicht einmal ein Halbblut! – Ich bin kein Halbblut, oder?«, vergewisserte ich mich. Papa hatte behauptet, dass nichts auf mich übergegangen sei, und Colin hatte es nie bestritten. Aber wem konnte ich noch glauben?
»Nein. Nein, mein Kind, das bist du nicht.«
»Aber was ist es dann? Was gab ihm den Grund, all das zu tun? Genügte es nicht, meinen Vater zu töten?«
Plötzlich keimte ein neuer schrecklicher Verdacht in mir auf. François … Pauls Befall. Mir war das schon immer ein wenig zu schicksalhaft vorgekommen. Mein eigener Bruder wurde von einem Mahr befallen, ausgerechnet von einem Wandelgänger, der jede Nische und jeden Winkel seines Daseins besetzte, um ihn bei allem, was er tat, kontrollieren zu können. Ich hatte anfangs geglaubt, dass es ein Rachefeldzug Tessas gewesen sei, doch diese Theorie hatten sowohl Colin als auch ich bald verworfen und ich hatte mich damit abzufinden versucht, dass es ein besonders makaberer Zufall gewesen war. War es nicht. Angelo musste ihn geschickt haben.
»François Later. Mein Bruder wurde von einem Wandelgänger befallen. Auch organisiert von Angelo, oder?«
Morpheus widersprach nicht. Also war es möglich. Und wahrscheinlich wusste Angelo, dass wir François bekämpft und raubunfähig gemacht hatten, denn Paul war mit mir in der Pianobar gewesen, sichtlich munterer als noch im Winter und mit einer jungen Frau an seiner Seite.
»Dieses dreckige, stinkende Stück Aas …«, knurrte ich. »Was habe
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