Dornenkuss - Roman
Blick noch ein bisschen klarer und ließ ihn über seine Unterarme wandern. Hatte er Einstiche? Ich besaß kaum Erfahrungen mit Drogen, doch ich hatte genügend darüber gehört und gelesen, um zu wissen, dass von Heroin niemand mehr richtig loskam. Die Mutter aller Drogen, aber auch die schlimmste. Was waren diese kleinen roten Punkte, Sommersprossen oder verheilte Narben von Spritzen? Ich konnte es nicht genau erkennen. Tillmann bemerkte mein Suchen und strich sich über seine linke Armbeuge.
»Dein Bruder hat mir anfangs ab und zu eine Spritze gegen die Schmerzen gegeben, das ist alles. Ich bin nicht vollkommen leichtsinnig, Ellie.«
»Schmerzen … war es so schlimm?«
Tillmann lupfte die Bettdecke und streckte sein linkes Bein heraus. Es war bandagiert. »Nur in Kombination mit meinen Verletzungen und Brandwunden. Bisschen viel auf einmal.« Ja, und auch diese Blessuren hatte er sich meinetwegen zugezogen.
»Also kein Heroin?«, fragte ich hoffnungsvoll.
»Nein. Ich würde es niemals nehmen. Weißt du, warum? Ich glaub, es wirkt wie Tessa. Oder umgekehrt: Tessa wirkte wie Heroin. Das will man wieder haben, immer wieder. Ich hab sie zweimal erlebt, das ist schon einmal zu viel, aber ein drittes Mal – und ich wäre verloren gewesen. Was nicht heißt, dass ich mich nicht danach sehne …«
Ich hatte es nur einmal erlebt, doch es hatte genügt, um den Wunsch nach einem zweiten Mal auszulösen. Vermutlich hatte Angelo auch deshalb ein leichtes Spiel gehabt – weil seine eigene Mutter ihm eine perfekte Vorlage geliefert hatte. Mir wurde so kalt, dass ich das Kissen von dem Bett, auf dem ich hockte, nahm und gegen meinen Bauch drückte.
»Und was hast du stattdessen genommen?«
»Och, von allem ein bisschen. Speed, LSD, Haschisch, Kokain. Am Schluss vor allem Kokain. Aber für den Showdown hab ich LSD genommen – künstliche Träume, das wolltest du doch, oder?«
Ich hob verwirrt den Kopf. Tillmann grinste mich schief an.
»Auf diese Weise konnte mir Angelo nichts antun! Ich war die ganze Zeit hinter dir, bin dir gefolgt. Deshalb hast du es mir auf den Küchentisch gelegt und nicht weggeworfen. Weil du wolltest, dass es mich schützt.«
»Ich weiß es nicht«, offenbarte ich. Ich konnte mich nicht daran erinnern. »Ich hab nur noch aus dem Bauch heraus gehandelt. Ich durfte nicht eigenständig denken, sonst wäre er mir auf die Spur gekommen. Er konnte meine Gedanken lesen. Aber dass du meinetwegen solche Probleme hast, das … das ist …«
»Hey, jetzt reicht es. Fehlt ja nur noch, dass du dich auspeitschst. Wenn ich ehrlich bin, hast du mir indirekt sogar einen Gefallen damit getan.«
»Wie denn das?«, kiekste ich fassungslos.
»Durch dich hatte ich einen triftigen Grund, das Zeug einzuschmeißen. Vielleicht hab ich nur nach einem solchen Grund gesucht. Und vielleicht hätte ich es auch ohne ihn getan, ein bisschen später … Ich bin mit der ganzen Situation nicht mehr klargekommen.« Tillmanns Mund bekam jenen scharf gezeichneten, ernsten Zug, der ihn sofort um Jahre älter aussehen ließ und den ich trotzdem an ihm mochte. »Jetzt hab ich die Kacke am Hals und muss sehen, wie ich mich wieder davon loskriege. Außerdem … außerdem … oh Mann, Ellie.« Er versteckte sein Gesicht in seinen Händen und knetete sich die Wangen. »Ich hab wirklich Scheiße gebaut, viel schlimmer als du, tausendmal schlimmer, und wenn du davon erfährst, dann …«
»Wovon redest du?« Ich zog seine Hände runter, damit ich ihn besser verstehen konnte, doch er sah mich nicht an. »Welche Scheiße?«
»Ich hab einen riesengroßen Fehler gemacht. Ich wollte dir eigentlich nix davon erzählen, weil ja alles doch noch gut gegangen ist, aber ich merke gerade, dass ich es nicht kann, und es frisst mich sowieso auf … seit Wochen schon.« Er rückte ein Stück von mir weg, als würde ich ihn schlagen, sobald ich mehr erfuhr. Wenn er sich so umsichtig verhielt, hatte es seine Gründe. Vorsichtshalber setzte ich mich auf meine flachen Hände, bevor ich ihn auffordernd anschaute.
»Ich muss es dir erzählen. Stimmt’s? Ja, okay, ich muss …«
»Dann tu es endlich!«
Tillmann schluckte trocken. »Diese Europakarte von deinem Dad …«
»Ja?« Wusste Tillmann etwa mehr darüber als ich? Konnte das sein – mein Vater hatte Tillmann eingeweiht und er hatte es die ganze Zeit für sich behalten?
»Das Kreuz in Süditalien. Es … es stammt nicht von deinem Dad. Es stammt von mir. Ich hab es da
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