Dornenkuss - Roman
besser so, vorerst jedenfalls. Mama würde Tillmann sonst vierteilen und Paul anschließend aus seinen Knochen Operationsbesteck schnitzen. Aber auf lange Sicht würde ich es ihnen erzählen müssen.
»Danke. Jedenfalls – Gianna hätte mich am liebsten persönlich nach Hause gefahren und von meinem Dad in den Keller sperren lassen.«
»Ja, das kann ich mir vorstellen … Sie haben es geduldet?« Wenn das so war, hatten sie sich wirklich große Sorgen um mich gemacht.
»Nur weil sie wussten, wozu ich es mache und dass es dich vielleicht aufwecken kann – und weil Colin versprochen hat, dass er mich anschließend wieder davon befreit.«
Mein Herz klopfte schmerzhaft, als Colins Name fiel, aber zugleich gab es mir Hoffnung.
»Das kann er? Colin hilft dir beim Entzug? Er ist hier?« Dann hatte ich mir die Wärmeschauer auf meiner Haut doch nicht eingebildet. Ich hatte ihn gespürt. Er war da, wenn auch nicht meinetwegen, sondern wegen Tillmann. Aber er war da.
»Er kommt jede Nacht vorbei und dann … ja, hm. Treibt den seelischen Entzug voran, indem er versucht, meine Wünsche nach dem Zeug aus mir herauszusaugen.«
»Wie genau macht er das? Was tut er dafür?«
»Eigentlich gar nichts.« Tillmann sah mich fragend an, als wüsste ich mehr darüber. »Oder ich kriege es nicht mit. Er setzt sich neben mein Bett und nach einer gewissen Zeit hab ich das Gefühl, dass er mir zuhört, meinen Gedanken und Gefühlen, er lauscht aufmerksam, wie es ein Mensch gar nicht kann, ohne dass ich etwas sagen muss, und irgendwann …. irgendwann schlafe ich ein, und sobald ich morgens aufwache, ist es ein winziges bisschen besser und die Wünsche sind schwächer geworden.«
»Du schläfst wieder.« Immerhin etwas Gutes, dachte ich erleichtert.
»Ja. Wenn Colin da ist, schon. Es ist ein angenehmer, tiefer Schlaf. Ich bin nicht allein dabei, verstehst du?«
»Du hast gar keine Angst vor ihm, oder?« Ich dachte bei dieser Frage an Gianna, die seine Nähe nicht mehr hatte kompensieren können und immer hysterischer geworden war, wenn er auftauchte. Auch Paul hatte sich in Colins Gegenwart nie entspannen können.
»Nö. Colin ist schon krass, vor allem tagsüber. Aber wenn er nachts zu mir kommt, habe ich ihn gern neben mir.«
Ich beschloss, ein weiteres Mal das Thema zu wechseln, um nicht wieder heulen zu müssen. Eine Frage hatte ich noch, dann würde ich Tillmann allein lassen, denn er sah entkräftet aus. Unsere Aussprache raubte ihm Energie und die brauchte er für andere Dinge.
»Dein Vater … Wer hat es ihm gesagt? Meine Mutter?«
»Klar, wer denn sonst? Mein Dad ist nicht blöd. Er hat schon die ganze Zeit gespürt, dass etwas mit dir nicht stimmt, und ich hab es auch. Eigentlich von Anfang an.«
Ich musste mich wohl oder übel damit abfinden, dass ein aufbauendes Gespräch unter Freunden anders aussah als dieses hier. Tillmann schickte ein Geschoss nach dem anderen durch die dünne Luft. Doch ich hatte es so gewollt.
»Beispiele, bitte«, forderte ich zickig.
»Na, zum Beispiel das Verhalten der Spinne. Die hat sich dir gegenüber von Beginn an seltsam verhalten. Nicht erst, als Tessa kam. Ich glaub fast, sie hat auf dich reagiert, nicht auf sie. Keine Ahnung. Schwarze Witwen lassen sich nicht von der Decke fallen, die kriechen. Das war untypisch. Dann die Stabheuschrecke. Die fressen keine Heimchen, das sind Vegetarier! Diese Heuschrecke ist zum Fleischfresser mutiert in deiner Gegenwart, das hat meinen Vater sofort irritiert, aber als er versucht hat, mit dir darüber zu reden, hast du ihn ausgeblendet, warst wie weg … Solche Momente gab es öfter, auch zwischen dir und mir. In denen du kurz weg warst, in einer anderen Welt. Morpheus hat uns erklärt, dass du eine – eine Auserwählte bist, oder?« In Tillmanns fragenden Gesichtsausdruck mischte sich scheuer Respekt. Ich war mir nicht sicher, ob ich diesen Zug an ihm mochte, wenn er mir galt. Respektlos war er mir lieber.
»Hat er sonst noch etwas erzählt?«
»Fast nichts. Nur dass es deshalb für Angelo leichter als bei anderen Menschen gewesen wäre, dich zu verwandeln, und dass wir dich deshalb nicht ausgrenzen, sondern nachsichtig sein sollen. Denn es sei eine wertvolle Eigenschaft und keine schlechte, vorausgesetzt, man trifft die richtigen Entscheidungen und hat einen guten Instinkt.« Die richtigen Entscheidungen … Seit Angelos Blendung waren meine Erinnerungen stückweise, aber sehr chaotisch zurückgekehrt und ich wusste inzwischen
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