Dornenkuss - Roman
gemütlich wie möglich in meine dünne Decke. Draußen sprang der Volvo an. Aha. Gianna fuhr einkaufen. Anscheinend hatte sie ihren Schock über das, was geschehen war, verarbeitet und übernahm wieder das häusliche Regime, zum Schrecken aller Anwesenden. Hoffentlich schlugen Mama und sie sich nicht gegenseitig die Köpfe ein.
Mit geschlossenen Augen versuchte ich mich an gestern Abend zu erinnern … an das Gespräch mit Tillmann und dann … ja, da war noch etwas geschehen, Stunden später. Kein Traum, sondern Wirklichkeit, obwohl es sich im ersten Moment wie ein Traum angefühlt hatte – aber einer von der unerwünschten Sorte.
Ich war mitten in der Nacht aufgewacht, nicht weil ich ein Geräusch oder Stimmen gehört hatte, sondern weil mein Körper entschieden hatte, dass er jetzt genug geruht hatte und dringend frische Luft brauchte. Und zwar auf die direkteste Weise, nicht in Form eines geöffneten Fensters hinter verschlossenen Läden. Er wollte nach draußen, ins Freie. Da alle anderen schon zu Bett gegangen waren, hatte ich mich erhoben, mir eine dünne Strickjacke übergeworfen und war zu der Terrassentür gegangen; nur wenige Meter, aber für mich eine Art Weltreise.
Ich traute dem allen da draußen nicht mehr. Ich hatte mich ihm verweigert, nicht ausschließlich deswegen, weil ich den anderen nicht begegnen wollte, sondern weil mich die unsinnige Furcht verfolgte, dass er sich zeigen würde, wenn ich mich zeigte. In meinem Zimmer war ich sicher, doch sobald die Sonne auf meine Haut scheinen würde, würde er, blind und entstellt, wie er war, aus seinem Haus kriechen, mich aufspüren und sich an meine Fußgelenke klammern, bis ich nachgab und er mich mit sich ziehen konnte, damit ich für ihn sehen würde.
Ich träumte nicht mehr viel, seitdem es geschehen war, doch wenn, waren es diese Träume. Oder aber Träume, in denen ich aus eigenen Stücken zu ihm zurückging, als wäre nichts geschehen, Träume, in denen ich darüber hinwegsah, dass er meinen Vater getötet hatte, und mich wieder zu ihm ans Klavier stellte. In diesen Träumen hatte er Augen. Sie waren nachgewachsen und er war schön wie immer.
Trotzdem waren es Albträume. Denn irgendwann in diesen Träumen wurde mir bewusst, dass ich etwas Falsches machte, etwas Gefährliches, ja, es war lebensgefährlich. Ein zweites Mal würde ich ihn nicht überlisten können. Jetzt war er gegen mich gefeit. Er würde jeden meiner Gedanken erahnen, bevor ich ihn überhaupt fassen und umsetzen konnte, und auch meine Gefühle gehörten ihm. Nun musste ich für immer bei ihm bleiben.
»Nur Träume, Ellie«, sprach ich mir Mut zu, während ich zaudernd vor den geschlossenen Läden stand. »Sonst nichts.« Ich konnte mir nicht vorstellen, dass er es geschafft hatte, nach der Blendung und dem Feuer von der Sila bis hier hinuntergekrochen zu sein. Vielleicht hatten die anderen ihn auch mitgenommen, obwohl ich überzeugt davon war, dass Mitleid nicht zu den hervorstechenden Charaktereigenschaften der Mahre gehörte. Am ehesten war anzunehmen, dass er sich irgendwo in dem verlassenen Dorf verbarrikadiert hatte.
Ich hatte keinen Mord mehr begehen wollen, aber mir wäre wesentlich leichter zumute gewesen, wenn wir ihm den Garaus gemacht hätten. Doch damit hätte ich uns alle einer ständigen Gefahr ausgesetzt. Solange er existierte und die Mahre als lebendiges Mahnmal daran erinnerte, dass mit uns Menschen nicht zu scherzen war, befanden wir uns in Sicherheit. Redete ich mir jedenfalls ein.
Was jedoch, wenn meine Träume einen winzigen Wahrheitsgehalt hatten? Eine Art prophetische Vorsehung? Lungerte er noch hier herum? Nein, dann hätten Mama und Paul mich längst nach Hause gebracht. Trotzdem kam ich mir vor wie in einem dieser ekelhaften Horrorfilme, in denen der Bösewicht nicht totzukriegen ist und immer wieder von Neuem seine Axt zu schwingen beginnt, als ich mit kalten, schwitzenden Händen die Verriegelung der Holzläden öffnen wollte und plötzlich spürte, dass dort draußen jemand war. Da war jemand! Er hatte sich gerade eben auf unser Grundstück geschlichen und lauerte mir geduldig auf, wohl wissend, dass ich mich irgendwann zeigen würde, weil die Nacht mich immer noch ins Freie lockte. Wahrscheinlich war es seine Anwesenheit, die mich geweckt hatte, nicht mein Bedürfnis nach frischer Luft. Letzteres hatte er mich nur glauben lassen, weil er vermeintliche Freiwilligkeiten liebte wie nichts anderes. Beinahe wäre ich darauf reingefallen. Ich
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