Dornenkuss - Roman
kaum mehr, welche Entscheidung richtig gewesen war und welche nicht. Dazu würde ich noch eine Weile brauchen. Trotzdem konnte ich das, was Tillmann gesagt hatte, so nicht stehen lassen.
»Ich will mich nicht entschuldigen und besser machen, als ich bin, aber … ich glaub nicht, dass das mit den Tieren und meinen Ausfällen an mir lag. Ich glaub, es war Angelos Einfluss. Er war nicht erst seit diesem Sommer in meinem Leben, sondern schon lange vorher.«
»Vorher?« Es war dämmrig im Zimmer geworden, doch ich konnte Tillmanns Augen aufflammen sehen. »Warum vorher?«
»Ich hab dir doch in Hamburg von Grischa erzählt, diesem Typen aus meiner Schule, den ich so sehr … gemocht habe und von dem ich dauernd träumte, tagsüber und nachts. Angelo hatte ihn unterwandert und mich dadurch auf sich geprägt, sodass ich ihm sofort verfallen war, als ich ihn traf. Angelo hatte mich schon jahrelang beobachtet. Mehr kann und will ich dazu jetzt nicht sagen. Aber es ist keine Ausrede, sondern die Wahrheit.«
Tillmann akzeptierte mein Bedürfnis, es bei dieser schlichten Erklärung zu belassen, ohne jegliche Gegenwehr. Ich brachte es noch nicht fertig, die Details zu schildern. Vielleicht würde es mir niemals gelingen. Zu viele unterschiedliche Gefühle zankten miteinander, wenn ich darüber nachdachte. Ich musste erst wieder Traumstoff finden, um mich dieser Wahrheit stellen zu können, und ich wusste nicht, woher ich ihn nehmen sollte.
Die Dunkelheit der beginnenden Nacht wurde dichter und ließ Tillmanns Züge weich und kindlich wirken. Doch das würde er nie wieder sein. Er gähnte ausgiebig, bevor er seinen Kopf auf das Kissen bettete und nachlässig die Decke über seinen Bauch zerrte. Bald würde Colin zu ihm kommen und ich wollte nicht mit ihm konfrontiert werden. Was er mit Tillmann tat, konnte nicht ohne Spuren bleiben. Wahrscheinlich war sein Hunger in diesen Tagen und Nächten noch stärker als sonst. Gleichzeitig sollte seine Stärke voll und ganz Tillmann zugutekommen, auch wenn der sich mit dem Kreuz auf der Karte einen eigentlich unverzeihlichen Schnitzer geleistet hatte.
Ich kniete mich vor Tillmanns Bett und sah dabei zu, wie seine Lider schwer wurden und hinabfielen. Vorsichtig fuhr ich durch seine Haare, die vom Wind und der Sonne spröde geworden waren.
»Ich will dir noch etwas sagen, aber bevor ich es tue, sollst du wissen, dass es nichts mit Sex oder Beziehungswünschen oder Ersatzliebhabertum oder sonst was zu tun hat. Es ist nur ein Gefühl, freundschaftlich und losgelöst von allem anderen, aber es ist das Einzige, wessen ich mir im Moment noch sicher bin.« Ich atmete tief durch, um mich vorzubereiten, doch als ich zu sprechen begann, fiel es mir leichter als erwartet. »Ich liebe dich, von ganzem Herzen. Vergiss das nicht. Ich liebe dich, Tillmann. Und ich danke dir für all das, was du für mich getan hast.«
Er erwiderte meine Worte nicht, natürlich tat er das nicht, er war ein Kerl und ich nahm sowieso an, dass er nicht das Gleiche für mich empfand. Aber das musste er gar nicht.
Es war beruhigend, es ihm zu sagen und dabei zu fühlen, dass es die Wahrheit war, weder genährt aus Blendung noch aus traumgetränkten Irrwegen, sondern entstanden aus dem, was wir miteinander und ohne einander erlebt hatten.
Heile ihn, Colin, dachte ich, als Tillmann in einen leichten Schlummer gefallen war und ich von fern den gleichmäßigen Rhythmus von Louis’ Hufen nahen hörte.
Bitte mach ihn wieder gesund.
G EBOREN, UM ZU LEBEN
Ich wurde schon in aller Frühe davon wach, dass jemand betont leise durchs Haus schlich und sich draußen auf der Terrasse zu schaffen machte, dann wieder durch den Flur geisterte, etwas aus der Küche holte, zurück nach draußen tapste – und dabei mehr Lärm veranstaltete, als wenn er sich ganz normal verhalten hätte. Nein, es war eine Sie. Gianna. Das konnte nur Gianna sein.
Sie wollte mich auf gar keinen Fall wecken und hatte bereits in den ersten Sekunden das Gegenteil erreicht. Doch ich nahm es ihr nicht übel, denn ich hatte fester und gelöster geschlafen als sonst, was sicher auch mit Tillmanns und meiner Aussprache zu erklären war. Ich war weit davon entfernt, mich wie neugeboren zu fühlen, das war ein Zustand, den es für mich nicht mehr geben würde. Aber meine Augen waren spürbar abgeschwollen und der Druck auf meiner Stirn, der mein Weinen seit jeher begleitete, hatte nachgelassen.
Ich streckte mich ausgiebig und kuschelte mich dann wieder so
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