Dornenkuss - Roman
mich nie angemacht, kein einziges Mal! All seine Argumente und Geschichten, die er erzählte – ich hatte keinen Grund, sie nicht zu glauben, es waren intelligente Sätze dabei, viele intelligente Sätze, und manchmal sprach er Dinge aus, die ich nie zu denken gewagt hatte, aber immer gefühlt und mir dabei gewünscht hatte, dass sie jemand ebenso empfand wie ich …«
»Weil er verdammt gut im Manipulieren war, Elisa! Das ist Manipulation! Geschickte Manipulatoren sind rhetorische Genies, sie sprechen dir aus der Seele und das, was sie sagen, hat Hand und Fuß und aus dem Munde eines anderen wäre es sogar harmlos. Ihr Ansinnen vergiftet es! Es kommt nicht aus ihrem Herzen, sondern entspringt einem Plan, es ist von vorne bis hinten kalkuliert. Genau das ist ja das Fiese daran … Sie ordnen es so an, dass es ein Spinnennetz ergibt, in das du automatisch hineinfliegst.«
Jetzt war Gianna wieder in ihren Lehrbuchjargon gefallen, doch dieses Mal war ich froh darum. Anders hielt man es wirklich nicht aus. Ich brauchte diese Distanz genauso wie sie.
»Aber ich hätte es merken müssen! Ich hätte merken müssen, dass es kalkuliert ist …« Schniefend zog ich ein Kleenex aus der Box und schnäuzte mich, bis meine Stirnader gefährlich anschwoll.
»Du konntest es nicht merken, weil es das erste Mal war. Beim ersten Mal haben sie immer die besten Karten. Einen raffinierten Manipulator erkennst du nur, wenn du schon einmal manipuliert worden bist«, referierte Gianna. »Hey, ich bin zwei Jahre lang drauf reingefallen, zwei Jahre! Und der Typ war hässlich wie eine nasse Ratte. Er war nicht einmal schön. Angelo hingegen war bildschön. Es ist immer leichter, auf einen schönen Menschen reinzufallen als auf einen hässlichen, und mein Ex hat es trotzdem geschafft.«
»Erbärmlich, oder?«
»Ich weiß es nicht.« Gianna rümpfte die Nase. »Ist es erbärmlicher, manipuliert zu werden, weil man an das Gute glaubt, oder andere zu manipulieren, weil man in Wahrheit ein armes Schwein ist? Ich hab Angelo doch selbst beinahe geglaubt.«
»Er hat mit euch geredet?«
Ich konnte Gianna nicht mehr sehen, weil ich in einem Nebel aus Glättungsspray verschwunden war. Doch an dem Ziehen meiner Haare spürte ich, dass sie heftig nickte, während sie mich kämmte.
»Oh ja, und wie. Seinen ganzen Charme hat er spielen lassen. Wir sollten dir doch ein bisschen Freiheit lassen, er würde auf dich aufpassen, er wolle dir nichts Schlimmes, und ja, er verspreche uns, dich zu bitten, mit uns heimzufahren … Ich war drauf und dran, uns eine Paranoia zu attestieren und ihn als Wiedergutmachung zum Essen einzuladen. Erst als er weg war und ich mit Paul darüber redete, wusste ich, dass ich auf ihn reingefallen war. Und soll ich dir was verraten?« Sie kippte das kleine Fenster, damit wir nicht high wurden vom vielen Spraynebel, der bereits unangenehm in meiner Kehle kratzte. Ich nahm einen Schluck Kaffee, um ihn hinunterzuspülen. Gianna lugte verschwörerisch aus dem abziehenden Dunst heraus.
»Aber sag’s nicht Paul, ja? Als ich Angelo das erste Mal gesehen habe, wie er da am Piano saß, dachte ich auch kurz, dass es sehr nett sein könnte, ihm ein paar Bettlektionen beizubringen.«
»Dem muss man nichts mehr beibringen, glaube ich«, holte ich sie auf den unbequemen Boden der Tatsachen zurück. Ich wollte gar nicht wissen, wie vielen jungen Mädchen Angelo schon schöne Augen gemacht hatte.
»Irrtum. Dem musst du alles noch beibringen. Der hat keine Ahnung von der Liebe …« Gianna seufzte theatralisch. »Weißt du, was mich schließlich stutzig gemacht hat? Sein Klavierspiel, die Art, wie er musizierte. Es hatte nichts Spezielles oder Originelles, keinerlei Eigenständigkeit. Er spielte und sang gut und es ließ mich auch nicht kalt, aber es war verwechselbar, von unzähligen anderen Musikern in winzigen Stücken abgekupfert. Es rührte nicht aus ihm selbst.«
Tja. Um das festzustellen, war ich anscheinend nicht musikalisch genug gewesen – oder ich hatte es nicht hören wollen. Gianna legte die Kuppe ihres Zeigefingers auf ihre Nasenspitze. Mir fiel auf, dass ihre Nägel angekaut waren. Ich hatte sie wochenlang unter Stress gesetzt, so sehr, dass sie in meiner Gegenwart nicht mehr schlafen konnte. Und nun saß sie bei mir und kämmte meine Haare. Waren wir vielleicht doch noch Freundinnen? Waren wir es die ganze Zeit gewesen und ich hatte es nur nicht gemerkt? Aber irgendwie schien es ihr auch Spaß zu machen, die
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