Dornenkuss - Roman
bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei;
doch am größten unter ihnen ist die Liebe.
(Ich habe ein wenig gekürzt, ich hoffe, die Propheten werden es mir nachsehen. Leb wohl, mein kleines Mädchen … das so groß ist, dass es über sich hinauswachsen wird.)«
Ich las den Brief ein zweites Mal, ein drittes Mal, dann nur noch die Bibelzitate, bis die untergehende Sonne das Papier feurig aufleuchten ließ und der Wind meinen Nacken mit einer Gänsehaut überzog.
»Jetzt schauen wir in einen Spiegel und sehen nur rätselhafte Umrisse, dann aber schauen wir von Angesicht zu Angesicht«,murmelte ich vor mich hin, als ich meine wenigen Habseligkeiten in meine Tasche packte und mich auf den Weg zu unserem Haus machte. Was bedeutete das? Warum hatte Papa mir ausgerechnet diese Zeilen geschickt? Ich dachte an die Anfangspassage mit dem prophetischen Reden und der Erkenntnis – sie waren ein dröhnendes Erz und eine lärmende Pauke, wenn die Liebe fehlte. Angelo hatte die Liebe gefehlt. Er war nur ein dröhnendes Erz gewesen und ich hatte geglaubt, in ihm die Weisheit aller Dinge zu finden. Mich selbst zu finden.
Ob Papa geahnt hatte, dass mir das passieren würde? Oder passierte so etwas jedem Menschen irgendwann im Laufe seines Lebens? Dass er sich an jemand versah?
Noch immer grübelnd schlurfte ich durch das Törchen und über die kleine Treppe hoch auf die Terrasse, wo ich mich in einen der Plastikstühle fallen ließ und erst aufsah, als ich merkte, dass ich nicht allein war. Paul und Gianna saßen mir gegenüber und schauten mich an, als hätten sie ein Kilo Brausepulver verschluckt und mit einem großen Glas Wodka abgelöscht. Leicht durchgedreht, aber redselig. Trotzdem waren ihre Münder wie zugenäht. Giannas Augen glänzten entzündet. Hatte sie geweint? Warum lächelte sie dann so glückstrunken?
»Alles in Ordnung?«, fragte ich und legte meinen Kopf schräg, um Pauls Gesichtsausdruck zu analysieren. Stolz. Stolz wie Oskar. Aber auch … ängstlich. Ja, er hatte Angst. Gianna hatte erst recht Angst. Angst, die einen zum Grinsen brachte?
»Püh«, machte Gianna und brach in ein kurzes, pubertäres Lachen aus. »In Ordnung, na ja, ich weiß nicht … Was meinst du, Paul?«
»Hömm«, antwortete Paul mit bierseligem Blick. Hömm? Was, bitte, bedeutete »Hömm«?
»Los, sagen wir es ihr«, drängelte Gianna. »Ich muss es ihr sagen! Nein, sag du es. Ich kann nicht.«
»Was denn jetzt?« Die beiden begannen mich nervös zu machen.
»Du …« Paul räusperte sich feierlich und strahlte bis über beide Ohren. »Du wirst Tante. Herzlichen Glückwunsch.«
Tante? Ich Tante? Das bedeutete, dass …
»Nee«, sagte ich ungläubig.
»Doch.« Giannas Augen wurden feucht. »Ich bin schon im dritten Monat. Mindestens. Deshalb war mir so schlecht und ich nehme auch an, dass ich dadurch so … na, Stimmungsschwankungen eben.«
Oh ja, die hatte sie gehabt, und zwar nicht zu knapp.
»Tante Ellie … Das klingt altmodisch. Nach einer Frau in grauem Kostüm und Wollstrumpfhosen«, beschwerte ich mich, immer noch zu überrumpelt, um einen klaren Gedanken zu bilden. Gianna war – schwanger? Sie bekam ein Kind? »Hattest du nicht die Pille genommen?«
»Ja, schon. Aber als ich zu euch kam, wegen meines Burn-outs, war mir ja so übel gewesen, schon die Tage vorher, und da hat sie wohl nicht so gewirkt, wie sie sollte. Ich denke mal, dass es da schon passiert ist. Außerdem hat dein Bruder offenbar ziemlich scharfe Munition.«
»Oh, verdammt, Gianna …« Jetzt erst wurde mir die Tragweite dieser Nachricht klar. Ich hatte Gianna in den vergangenen Wochen ständig in Aufregung versetzt, sie war dabei gewesen, als wir Tessa getötet hatten, sie hatte mit uns in Quarantäne gelegen, danach meine verfluchte Angelo-Trance miterlebt und ihre vergeblichen Versuche, mich zurückzuholen – und sie hatte die ganze Zeit ein Baby in ihrem Bauch gehabt! Sie hätte es verlieren können … Schon allein deshalb, weil Mahre in der Nähe gewesen waren. Colin. Tessa. Angelo. Und – und ich? Hatte ich sie ebenfalls gefährdet?
»Weißt du noch, dass du mir abgeraten hast, ihr Valium zu geben?«, fragte mich Paul. »Das war Gold wert. Ich sag ja, du hast einen guten Instinkt, Schwesterchen.«
Oh Gott, und anschließend hatte sie sich in die kochend heiße Badewanne gesetzt! Ich erinnerte mich überdeutlich daran, wie sehr mir das unter die Haut gegangen war und ich sie dazu gezwungen hatte rauszukommen, weil ich
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