Dornenkuss
verschwammen und sich wieder trennten. In den höheren Lagen tönten sie silbrig und hell, wie Nebel, der vom Mond angeleuchtet wurde. Dazwischen Goldfäden. Ich glitt durch die Farben, als würde ich schweben, und nahm Tillmann mit mir. Die Spiegel … wir mussten die Spiegel finden … Hand in Hand liefen wir zur Geländerbrüstung.
Colin saß auf der Treppe, den rechten Arm lässig auf sein Knie gestützt, das linke Bein ausgestreckt, die Schultern entspannt. Die Haare fielen seidig in seinen Nacken und pulsierten ebenso wie die Natur um uns herum. Seine Haut leuchtete heller als sein verwaschenes Hemd; scharf und prägnant zeichneten sich seine Wangenknochen unter ihr ab – ein Bildhauer, der begnadetste aller Jahrtausende, musste sie erschaffen haben. Als er uns seine Augen zuwandte, verwandelten sich die schwarzen, toten Spiegel in Diamanten und seine Züge wurden lebendig und beseelt. Er war so unglaublich schön. Wir mussten ihn berühren. Beide. Wir gingen zu ihm, schmiegten uns an ihn.
Lächelnd sah ich dabei zu, wie Tillmanns Jungenhände über Colins Haar und seine Wangen tasteten und auch Colin zu lächeln begann, gelöst und glücklich. Er sagte nichts, sondern ließ uns wortlos gewähren, wie wir ihn müßig zu fassen und zu begreifen versuchten.
Ich nahm seine langen, gebogenen Wimpern zwischen meine Lippen, pudrig schmeckten sie und ein wenig bitter, und wollte das Glitzern in den Pigmenten seiner weißen Haut kosten. Tillmanns und mein Mund berührten sich dabei, denn auch er küsste ihn, dann sackte Tillmann gegen Colins Schulter, seine Hände immer noch an Colins Hals, wo das Rauschen aus seiner Brust sich mit dem Blau und dem Silber der Musik vermischte … diese Musik war für ihn geschrieben worden, sie wurde ihm gerecht … Ich fand tiefen Frieden darin, Tillmann fest in seinem Arm zu wissen, während ich immer noch versuchte, den Zauber seines Gesichts zu ergründen und in die Tiefe seiner schwarzen Augen einzutauchen, die mich zurückfedern ließen wie ein Trampolin.
Doch dann zog das Blau der Musik sich zwischen die wirbelnden Pappelblätter zurück und verharrte dort, um Platz zu machen für eine andere, größere, süßere und willkommenere Macht. Wir wandten gleichzeitig unsere Köpfe zur Straße, wo der Wind den Staub in Spiralen aufsteigen ließ – der Wind und ihre trippelnden Füße, zierlich und behände, dabei voller Kraft und beseelt von einer Entschlossenheit, die ich an mir so oft vermisst hatte. Ich konnte es kaum erwarten, sie zu sehen, ihr gegenüberzutreten, obwohl ich jetzt schon ihre Umrisse erahnte. Ihr samtener Umhang schleifte über die Straße wie der Leib einer Schlange und ihre wilden roten Haare wallten bis über ihre Hüften, spielten mit sich selbst, verkletteten und trennten sich wieder, aber immer strahlten sie, als wäre die Sonne nie untergegangen.
Ich wollte in ihre Augen sehen. Bitte. Bitte komm. Komm und erlöse uns, nimm uns mit in dein Reich.
Als sie vor unserem Tor erschien, stand ich nicht auf. Es gab keinen Grund dazu. Ich zeigte ihr meine Ehrerbietung nicht, indem ich wachte, sondern indem ich schlief. Warum hatte ich nie gesehen, wie ergreifend makellos und vollendet sie war, warum hatte ich nie wahrhaben wollen, was sie mir geben konnte, wenn ich ihr nur meine Träume überließ? Natürlich wollte Tillmann zu ihr. Ich wollte es auch. Alle Angst, alle Pein, alle Sorgen und Nöte, die mich jemals gequält hatten, drifteten von mir weg und konnten mir nichts mehr anhaben. Für einen aberwitzigen Moment glaubte ich, wieder im Bauch meiner Mutter zu liegen, rund eingekuschelt, geschützt und beschützt vor den Geistern und Dämonen dort draußen. Im Leib meiner Mutter, wo ich nur ich sein konnte, aber nichts musste. Keine Erwartungen, keine Aufgaben, meine einzige Herausforderung bestand darin, zu schlafen und mich ihrer Geborgenheit zu überlassen. Wieso kamen wir überhaupt zur Welt? Warum konnten wir nicht dort bleiben, wo es uns am besten erging? Was oder wer konnte mich davon abhalten, dorthin zurückzukehren? Ich musste nur in ihre Augen sehen, in dieses schmeichelnde, lockende Grün, der Anfang allen Lebens und das Ende allen Daseins, aller menschlichen Last …
Ich stützte mich mit der Hand auf der Stufe ab, um es zu vollenden und sie auf Knien zu mir zu bitten, als meine Pupillen sich wie von allein zur Seite bewegten und durch den verwaschenen Stoff von Colins Hemd blickten. Sie sahen etwas, was dort nicht hingehörte. Nein, das
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