Dornenkuss
mein letzter Lebenshauch aus meinen Lungen gewichen war. Ich musste zu ihm. Ich war mir nicht sicher, ob ich Arme hatte, ob ich es schaffen würde, nach der Waffe zu greifen, um ihn einholen zu können und mit ihm zu gehen, indem ich sie mir selbst ins Herz stieß, aber versuchen wollte ich es. Ächzend rollte ich mich auf die Seite und robbte nach vorne, doch jemand griff nach meinen Beinen und zerrte mich von ihm weg. Ich hatte keine Kraft, mich zu wehren. Alles, was ich konnte, war zu schreien und nur deshalb gelang es diesem fremden Wesen, das mich festhielt und daran hinderte zu sterben, mir eine kleine Pille in den Mund zu schieben. Ich biss zu, erwischte einen Finger, der sich eilig zurückzog, doch meine scharfen Zähne begannen die Tablette zu zerkauen. Sie schmeckte säuerlich. Mein Schreien versiegte innerhalb weniger, quälender Herzschläge und meine Gedanken wurden klarer. Was geschah hier gerade mit mir? War ich überhaupt noch ein Mensch? Warum konnte ich nicht mehr laufen, nicht einmal mehr kriechen? Blinzelnd sah ich an mir herunter. Ich hatte Arme und Beine, ich konnte sie nur nicht bewegen, ich war gelähmt, und meine Haut … meine Haut … Zitternd strich ich über meinen nackten Arm. Meine Fingerkuppen waren beinahe taub, doch sie fühlten keine Schuppen, sondern weiche, warme Haut, die von einem kalten Schweißfilm überzogen war. Auch meine Zunge war nicht mehr gespalten. Ganz und gar menschlich lag sie in meinem Gaumen.
Und was war mit Colin? Hatte ich das alles etwa auch nur geträumt – dass er den Dolch in seinen eigenen Leib gestoßen hatte? Bitte, bitte lass es nur einen Traum gewesen sein, bitte, dachte ich flehentlich, als ich meinen Kopf hob und wimmernd zu ihm hinüberblickte.
»Oh nein … nein …«, flüsterte ich, meine Stimme nur mehr ein Schnarren. Seine linke Hand auf die Brust gepresst, in der immer noch der Dolch steckte, keine Einbildung, sondern gnadenlose Realität, starrte er an mir vorbei. Auch Paul, Gianna und Tillmann, der mich fest an den Schultern hielt, schauten in diese Richtung. Automatisch folgte ich ihren Blicken und betrachtete wie sie das zuckende kleine Bündel, das hinter mir auf den Fliesen lag.
Tessa … Sie war noch immer hier! Ihre Haare bedeckten beinahe den gesamten Boden. Ich sah es in ihnen wimmeln. Ihr Gesicht war zu einer abartig hässlichen Fratze verzerrt. Erst beim zweiten Hinschauen erkannte ich das Messer, das aus ihren Gewändern ragte. Tillmann musste es bis zum Schaft in ihren Körper versenkt haben. Doch es floss kein Blut. Ein gutturales Wehklagen drang aus ihren überschminkten, krümeligen Lippen und wir konnten dabei zusehen, wie das boshafte Flackern in ihren sumpfigen Augen verblasste und einer grenzenlosen, stupiden Leere Platz machte. Ich wusste nicht, ob wir sie getötet hatten. Aber etwas in ihr verendete gerade, als würde es von ihr weichen und sich in der heißen Abendluft auflösen.
»Mutter …«, flüsterte Colin, während sein blaues Blut immer noch auf seine Knie tropfte. Sein Blick war matt geworden und seine Hände bebten. Ihn sprechen zu hören, weckte mich vollends auf, obwohl seine Stimme in meinen Ohren unnatürlich fremd und kindlich klang.
»Reiß dich zusammen, verdammt noch mal!«, zischte ich, beugte mich nach vorne und wollte den Dolch aus seinem Leib ziehen. Doch mein Arm griff ins Leere. Ich hatte noch nicht die volle Kontrolle über meinen Körper zurückerlangt, obwohl ich geistig immer gegenwärtiger wurde – ich würde machtlos dabei zusehen müssen, wie er starb. Warum nur hatte er das getan? Warum? Und was geschah mit Tessa? War sie noch gefährlich? Unternahm deshalb niemand etwas? Mussten wir erst warten, bis sie tot war, bevor wir Colin helfen konnten?
Meine Augen flogen panisch zwischen Colin und ihr hin und her. Paul und Gianna schwiegen wie versteinert, ohne sich von Tessas Anblick lösen zu können. Nur Tillmann seufzte bei jedem Atemzug tief und gepeinigt auf, als würde eine stählerne Faust sein Herz zerquetschen – und als würde er genau dann atmen, wenn Tessa es tat. Nach und nach verebbte das Zucken in ihrem schmächtigen und doch so schwellenden Leib. Die rötlichen Haare auf ihren Handrücken fielen wie auf einen Schlag aus. Ihre Gesichtszüge glätteten sich, verloren alles Dämonische, als wäre es nie da gewesen. Schließlich, nach endlos langen Sekunden, klappten ihre Lider herab. Ein letzter Atemzug erschütterte ihre und Tillmanns Brust. Es war vorüber. Endlich war es
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